Im Rahmen des Möglichen
Ingrid war sich von Anfang an unklar darüber gewesen, was sie von Olaf halten sollte. Nicht, dass Ingrid hinsichtlich des Unterhaltungswertes einer Schildkröte eine hohe Erwartungshaltung gehabt hätte. Aber war es wirklich zu viel verlangt, ab und zu den Kopf aus dem Panzer zu strecken? Zumindest jetzt wo der Herbert weg war?
Für Herbert war Olaf zweifellos das perfekte Tier gewesen. Hatte er doch selbst eine sichere Distanz zu jeglicher Bewegung gepflegt. Während Ingrid ihre wöchentlichen Aerobic-Stunden absolviert hatte, war Herbert für gewöhnlich zu Hause geblieben, um vor sich hinzuleben. Im Nachhinein betrachtet war das wahrscheinlich nicht ganz optimal gewesen.
Mit den Blutwerten war das eher schon ein ‹vor sich hinsterben› als ‹vor sich hinleben› gewesen, hatte der Arzt gesagt. Zu viel wäre alles gewesen für das Herz vom Herbert, meinte der.
Dabei hatte der Herbert es doch immer schon ruhig, geradezu langsam angehen lassen. Zwei Monate hatte es gedauert, bevor er sich damals getraut hatte, Ingrid überhaupt mal anzusprechen. Aber nett war er gewesen, der Herbert. Und wieso nicht einen netten Mann heiraten? Da musste man keine Angst haben, dass der einem wegläuft. Und sie hatten sich dann ja eine ganz nette gemeinsame Zeit gemacht und eine recht liebenswerte Tochter bekommen. Und der Herbert hatte ihre kleine Familie geliebt, glaubt sie. Den Olaf ganz sicher. Und Ingrid hatte den Herbert wohl auch irgendwie geliebt. Sonst hätte sie das mit dem Bild sicher nicht so gestört.
Ingrid hatte erst gar nicht gewusst, was sie denken sollte, als sie beim Ausräumen von Herberts Arbeitszimmer dieses Bild von der lächelnden Frau mit der hellrosa Bluse und den langen dunkelblonden Haaren in dem roten Aktenordner entdeckte. Der Olaf schaute sie dabei teilnahmslos aus seiner Ecke an, als wüsste er von nichts. Die roten Ordner waren für geschäftliche Unterlagen. Auf Ordnung hatte der Herbert immer besonderen Wert gelegt. Dabei hätte sie sich manchmal schon ein bisschen spontanes Chaos oder ein kleinwenig spannende Unordnung gewünscht. Nur so in einem Eckchen. Oder im Schlafzimmer. Aber wirklich nur so ein bisschen.
Sie konnte das Gesicht der Frau einfach nicht einordnen. Noch weniger konnte sie einordnen, wieso der Herbert überhaupt ein Bild von einer fremden Frau in dem Ordner für geschäftliche Angelegenheiten haben sollte. Einfach so zwischen den Rechnungen für den Bürohandel und den Einrichtungsladen. Noch dazu auf so ein edles, dünnes Glanzpapier gedruckt. Das würde ihrem Herbert doch nicht passieren, etwas falsch einzuordnen. Beim Herbert war ja nie einfach was passiert.
Als Ingrid später die Tochter nach der Frau fragte, meinte diese, dass das bestimmt nur die Tante Irmi sei, als die noch jünger war. Aber die Irmi hatte keine blauen Augen und sicher keinen so schlanken Giraffenhals – auch nicht als sie jünger gewesen war.
Einmal war Ingrid sich dann sicher gewesen, die Frau von dem Bild am Parkplatz vom Lidl gesehen zu haben. Die sah bereits von hinten so aus, als wäre das eine von denen, die auf Fotos lächeln. Die verbog sich richtig und stellte ihren Po zur Schau, während sie ihre San-Pellegrino-Flaschen ins Auto hob. Ingrid war dann bemüht unauffällig auf die andere Seite des Parkplatzes geprescht, um das Gesicht der Frau noch zu erspähen, bevor sie wegfuhr. Aber von vorne sah die dann doch anders aus. Weniger giraffig. Außerdem war ihr Herbert ohnehin eher ein Gerolsteiner-Trinker gewesen.
Zu Hause änderte sich nicht allzu viel, jetzt wo der Herbert weg war. Der war ja immer schon eher von der unauffälligen Art gewesen. Am Computer war er viel gesessen. Für die Arbeit, glaubt Ingrid. Vielleicht war die Frau auf dem Bild ja eine von denen, die Männer im Internet kennen lernen. Vielleicht war der Herbert da ja so zufällig darüber gestolpert, über die Frau mit ihrem Lächelbild. Sowas kann ja passieren. Selbst ihrem Herbert. Er war ja damals auch ein bisschen über sie selbst gestolpert.
Mit der Zeit verging der Schildkrötengeruch im Arbeitszimmer und wurde durch den Geruch frisch gestrichener Farbe abgelöst. Ingrid hatte das Arbeitszimmer umgeräumt und der Olaf war ins Wohnzimmer gezogen. Irgendwie fand sie die Gesellschaft dann doch ganz nett. Olaf störte sie zumindest weniger als das Alleine sein.
Mit der Zeit vergaß Ingrid das Bild von der Frau fast ein bisschen. Daher musste sie mehrmals blinzeln, bis sie das Lächelgesicht erkannte. Mitten im Einrichtungsladen starrte die Frau vom Bild ihr plötzlich mit den perfekt gestylten dunkelblonden Haaren entgegen. Direkt zwischen dem weißen Porzellankätzchen und dem kleinen Pinocchio streckte die Frau ihr den Giraffenhals entgegen. Und daneben gleich noch einmal. Und daneben noch einmal. Direkt aus den drei silbernen Bilderrahmen mit den eingravierten Blümchen heraus. Aus genau so einem Bilderrahmen heraus, in dem der Herbert ihr zu Weihnachten ein Bild von der Tochter geschenkt hatte.
So eine nette Idee, hatte Ingrid damals gesagt. Zu ihrem geliebten Herbert. Wirklich nett.