Lücken
Ich fahre die Straße entlang, automatisch und wie von selbst. Ich kuppele, ich schalte, bremse und merke von alledem nichts. Die enge Kurve, die lange Straße mit den sanften Hügeln. Die Brücke mit dem rostigen Geländer, die Kreuzung mit der unsinnigen Ampelschaltung. Ich fahre den Weg, so wie ich auch atme: ohne Nachdenken und ganz selbstverständlich.
Ich komme an dem hässlichen Kirchturm aus den 60ern vorbei. Als ich mich vor etwa 30 Jahren mit meinen Geschwistern auf dem Rücksitz drängte, war dieser Kirchturm immer das Zeichen, dass wir bald bei Oma und Opa sein würden. Wir drehten uns um und wetteten, wer den Turm noch am längsten sehen konnte. Immer gewann mein großer Bruder. Heute verrenke ich mir nicht mehr den Hals, aber verstohlen werfe ich immer wieder einen Blick in den Rückspiegel und freue mich, wenn der Turm zwischen den Frühlingsbäumen und den Neubauten noch einmal auftaucht. Gewonnen!
Ich biege beim Autohaus rechts ab, dann ist da links das Haus mit dem Regenbogen an der Fassade, jetzt rechts abbiegen in den Wiesengrund. Unwillkürlich mache ich meine Schultern schmal, als ich mein Auto durch die viel zu enge Toreinfahrt lenke. Ich blicke hoch zum Küchenfenster, aber da steht niemand. Keine Oma, die auf ihre Enkel wartet. Da ist nur der bestickte Vorhang.
Durch die geöffnete Autoscheibe berühre ich die Hausnummer, die am Torpfosten angebracht ist. 23a. Vor jedem Ausflug, den wir mit unseren Großeltern machten, mussten meine Geschwister und ich ihre Adresse aus dem Kopf aufsagen. Falls wir Dorfkinder in der großen Stadt verloren gingen.
Ich fahre im Schritttempo am Haus vorbei und parke hinten im Garten unter dem Apfelbaum. Mein Opa wollte den Baum loswerden, weil er keine Äpfel trug. Also bohrte er bei Nacht und Nebel die Wurzeln an und schüttete irgendeine Säure, die vermutlich damals schon verboten war, in die Bohrlöcher. Im nächsten Herbst hing der Baum so voller Äpfel, dass meine Großeltern einen Teil der Ernte in die Mosterei brachten und sie den ganzen Winter über Apfelsaft hatten.
Ich blicke zum Balkon hoch, von dem man in den Garten blicken kann. Früher saß Opa dort oben. Meist mit seiner Tageszeitung. Wenn wir zum Mittagessen angemeldet waren, wurde er allerdings in der Küche voll eingespannt. Zum Beispiel Kartoffeln schälen und reiben. 5 Kilo Kartoffeln für viel zu viele Kartoffelpuffer. Oma kochte immer für die große Familie, die sie gerne gehabt hätte. Nicht nur für das eine Kind und die drei Enkel. Nach der Geburt meines Vaters erlitt meine Oma Fehl- und Totgeburten. Sie hat nie darüber gesprochen. Aber als ein kleines Leben in meinem Bauch verging, war meine Oma da. Sie war die Einzige, die meinen Schmerz verstand und mit mir meinen Verlust beweinte. Aber ihre Tränen waren auch Tränen aus einer längst vergangenen Zeit. 60 Jahre alte Tränen um ihre toten Babys. Nein, die Zeit heilt nicht alle Wunden. Sie schmerzen nur im Alltag nicht mehr so doll. Und mehr kann man nicht erwarten.
Ich steige nicht die Treppen zur Haustür hinauf, sondern klettere über die gemauerten Absätze, so wie wir es als Kinder taten. Mein Papa öffnet die Tür zu seinem Elternhaus und der Moment, vor dem ich mich seit Jahren fürchtete, ist da. Ich betrete das Haus meiner Großeltern, das immer eine Heimat für mich war, das letzte Mal.
Ich umarme meinen Papa und halte inne. Ein Gefühl, mit dem ich nicht gerechnet habe, erfüllt mich. Es ist so friedlich im Haus. Und in den Augen meines Vaters liegt die gleiche Ruhe. Ich weiß, dass er es nicht immer leicht hatte in seiner Kindheit. Aber nun ist hier nichts als Frieden.
Unten ist die Stube meiner Uroma, mit kleiner Küchenzeile, Schlafzimmer und schwarzgekacheltem Badezimmer. Die Klospülung, die durch einen kräftigen Zug an einer langen Kette zu betätigen ist, war für uns als Kinder etwas sehr Besonderes. Seit dem Tod meiner Uroma wurde diese kleine Wohneinheit Gästen vorbehalten. Für den Onkel Heinz aus Köln, für die Tanten aus Schwerin, für die letzten Mitglieder des Kartenclubs.
Ich gehe die knatschende Treppe hoch, vorbei an den alten Bildern vom Hafen und der Stadt. Ich versuche jedes Geräusch, jeden Geruch, jedes Gefühl und jedes Bild abzuspeichern. Das Treppengeländer, über das meine Hände gleiten: Strg S. Der würzige Geruch des grünen Sofas in der kleinen Stube, auf der wir als Kinder immer übernachteten: Strg S. Der Blick vom Balkon: Strg S.
In der Küche räumt meine Mutter den Kühlschrank leer. Ich suche mir einige Tassen und eine Teekanne mit Rosenmuster aus dem Schrank und behalte sie als Erinnerung. Die Küche war immer der lebendigste Ort des Hauses. Hier wurde an Festtagen für große Runden gekocht, gebacken und abgewaschen. Ich bewunderte Oma immer, dass ihr das fast kochend heiße Wasser aus dem Boiler an der Wand nichts ausmachte. Wir Kinder waren für das Abtrocknen zuständig und wussten verlässlich, wo welcher Löffel, welche Tasse einsortiert wurde. Als wir größer wurden, kamen neue Aufgaben dazu: Mit dem Kellerkorb die steile Stiege runter, Apfelsaft holen, Gartenstühle hoch schleppen, den Videorekorder programmieren, die Uhren auf Winterzeit stellen.
Wer feiern kann, kann auch arbeiten, höre ich Omas Stimme noch heute in meinen Ohren.
Und das konnten meine Großeltern. Nach Kriegsgefangenschaft und Flucht endlich in der Stadt angekommen, erwarben meine Großeltern ein Grundstück am Stadtrand, der damals noch ein von Wiesen umgebenes Dorf war. Mit eigenen Händen bauten meine Oma und mein Opa ihr Haus. Mit dem Material, das aufzutreiben war, mit der Kraft, die nach der Lohnarbeit noch übrig war. Mir kamen meine Großeltern immer reich vor. Sie hatten ein Haus in der Stadt, goldene Fingerringe, einen Volkswagen und flogen in den Urlaub. Von den Schrecken und Entbehrungen der Kriegs- und Nachkriegszeit erfuhr ich erst viel später. Von den Strohsäcken und Holzkisten, die lange Zeit die einzigen Möbelstücke waren.
In jeder Ecke entdecke ich Dinge, die ich gerne behalten würde. Der bestickte Wandbehang. Das schlüsselförmige Schlüsselbrett. Der rotgemusterte Teppich auf dem langen Flur. Ich kann das alles nicht mitnehmen. Ich versuche zu speichern. Strg s.
In der Stube blättert meine Schwester in einem Fotoalbum. Ich knipse die Kirstalllampen am Esstisch an und aus und an und aus und finde es schade, dass mich keiner ermahnt: Einmal knipsen reicht! Ich greife unter den Esstisch und ziehe einen Stapel Zwanzig-Euroscheine aus einer Nische hervor. Ich grinse und mache drei Haufen. Omas Notgroschen gerecht an die drei Enkel verteilt, so hätte sie es gewollt.
In dem eingebauten Bücherregal stehen, seit ich denken kann, eine lange Reihe Readers Digest und Fotografien von meinen frischverliebten Eltern und von uns drei Kindern auf einer Picknickdecke in einem Rapsfeld. Ein großes Portrait von Opa steht auf dem Sofatisch. In der Schale mit dem stumpfen Obstmesser, den Stiften und dem Flaschenöffner entdecke ich einige lose Fotos jüngeren Datums. Ich freue mich, denn nach Opas Tod wollte Oma eigentlich nie wieder auf Fotos auftauchen. Es war eine schwere Zeit, so schwer.
Aber Omas Lust am Leben siegte. Sie verliebte sich noch einmal. In ihre Jugendliebe Willi, zu dem über all die Jahrzehnte eine Freundschaft bestand. Willis Frau war bereits zwei Jahre zuvor verstorben. Oma und Willi begannen sich zu treffen. Dann wurde Uromas Stube für ihn hergerichtet. Und irgendwann besuchte ich Oma und entdeckte Willis Koffer in Omas Schlafzimmer. Ich freute mich ehrlich. Und alle anderen auch. Die Opa-Lücke blieb, aber Oma war nicht mehr einsam. Und Willi auch nicht.
Ich gehe in den Keller, der immer ein spannender Ort gewesen war. Uralte Dinge stehen hier herum. Zinkwannen im Wäschekeller, Einmachgläser, Weinflaschen, Zeitschriften aus den 70ern. Der Keller ist eng und niedrig. Aber er konserviert nicht nur Vorräte, sondern auch Erinnerungen. Er riecht nach Kalk. Strg s.
Als ich das Haus verlasse, gehe ich noch einmal durch den Garten zu den drei Torpfosten, die die kleine Pforte für die Fußgänger und die große Pforte für die Autos einrahmen. Als Kinder hatten wir eine Mutprobe: von dem linken Pfosten über die kleine Pforte hinweg auf den mittleren Pfosten springen. Ich klettere auf den Pfosten, nehme allen Mut zusammen und springe. Mir entfährt ein kindliches Lachen und ich sehe stolz rauf zum Küchenfenster.
Ein Jahr später
ist die Sehnsucht nach alter Vertrautheit so groß, dass ich mich ins Auto setze und den gewohnten Weg fahre. Ich biege in den Wiesengrund ein und sehe, was ich befürchtet habe: eine große Baulücke. Haus, Garten, ein ganzes Leben planiert. Ich schreie.
Eine Lücke
ist ein Ort, der aus Nichts besteht - mit ganz viel Rand drumherum. Und der muss stabil sein, damit das Nichts nicht größer wird. Der Rand sind die Erinnerungen an diesen Ort, den es nicht mehr gibt. Ein Ort, an dem ich immer Kind geblieben und trotzdem erwachsen geworden bin.
Die Zeit heilt nicht alle Wunden. Sie schmerzen nur im Alltag nicht mehr so doll. Und weniger soll man nicht erwarten.