Die Wunde
Erst am vierten Tag finden wir sie. Meine Mutter. Im Krankenhaus. Mit einer Platzwunde am Kopf blickt sie uns verständnislos an. Es ist der 16. August 1961. Was war passiert?
Vor vier Tagen, einem strahlenden Sonntag, verlässt Mutter morgens unsere Wohnung in Oranienburg, um zu Großvater nach Westberlin zu fahren. Er hat gerade seine Wohnung renovieren lassen, und sie will ihm beim Saubermachen helfen. Meine kleine Schwester und ich stehen erst später auf, vom Vater geweckt. Plötzlich fällt mein Blick auf den Wohnzimmertisch. Da liegt ausgebreitet das „Neue Deutschland“, die Sonntagsausgabe. Ich lese die riesigen, in drohendem Schwarz gehaltenen Überschriften und bin geschockt. Die S-Bahnhöfe gesperrt, Strecken durchtrennt, man kommt nicht mehr nach Westberlin.
Irgendwie kann ich das nicht so richtig fassen, was ich da schwarz auf weiß lese. Es klingt alles so endgültig, unabänderlich. Kann ich also meinen Opa nicht mehr besuchen? Die vielen Sommer, die ich bei ihm verbracht hatte, die lehrreichen Gespräche, die leckeren Eissorten, das Spielen und Toben mit den Nachbarskindern, die Kinobesuche, alles vorbei?
Wie hatte ich immer auf den Rückfahrten vor der Grenzkontrolle in der S-Bahn gezittert, wenn ich mein mit Naschsachen vollgepacktes Körbchen umklammerte. Und wo ist Mutter? Sie war doch auf dem Weg nach Berlin. Wie immer auf dieser Strecke, die von Oranienburg nach Berlin-Wilhelmsruh führt, wo die eine Seite des S-Bahnhofes schon in Westberlin liegt. Hat sie es doch noch geschafft?
Der Vormittag vergeht mit bangem Warten, ohne eine Nachricht. Durch unsere Straße rollen inzwischen Panzer aus der Kaserne Richtung Berlin. Vaters Freund bietet sich an, ihn mit seinem Auto nach Wilhelmsruh zu fahren, um zu sehen was los ist. Doch schon bald kommen beide wieder zurück. Vater erzählt, dass die Zufahrtsstraßen nach Berlin bereits gesperrt waren. Den ganzen Tag über dudelt das Radio. Es wird von Menschenansammlungen, Stacheldrahtsperren, Verzweiflungstaten berichtet.
Am Nachmittag kommt ein Telegramm vom Großvater:
Irmchen nicht eingetroffen. Gruß Vater.
Jetzt ist meine Angst da. In mir beginnen sich Bilder abzuspulen. Mutter ist eine sehr gute Schwimmerin. Alte Fotos aus der Heimat zeigen sie stolz mit vierzehn Jahren, ihr Freischwimmerzeugnis in der Hand. Wenn sie nun versucht hat, irgendeinen Fluss oder Kanal zu durchschwimmen und angeschossen wurde? Es ist schrecklich. Ich darf mir nichts anmerken lassen, meine kleine Schwester ist ja erst fünf. Ich fühle mich so hilflos. Wir sitzen einfach nur am Fenster und gucken auf die Straße.
Am nächsten Tag geht Vater zur Schule. Parteigruppe. Die Genossen sind keine Hilfe. „Sie wird eben abgehauen sein“, sagt der Parteisekretär.
„Aber wie denn? Sie lässt doch nicht ihre Kinder und ihren Mann im Stich“.
Vater erzählt das völlig sachlich. Zeigt keinerlei Emotionen. Ich bin fassungslos. Was kann ich tun? Um mich abzulenken, helfe ich nebenan im Möbelgeschäft beim Staubwischen. Da sehe ich meine Schulfreundin vorbeigehen.
Ich renne raus und sage nur: „Stell dir vor, meine Mutter ist seit gestern weg“.
Wir gehen zusammen zu ihr nach Hause und ich erzähle alles, was ich weiß. Ihre Eltern sind erschüttert.
Gleich gibt es Mittagessen, davor ein Gebet. Am Nachmittag kommt meine zweite Schwester aus dem Ferienlager zurück. Wir erzählen ihr alles und warten wieder am Fenster. Ich habe auf einmal Angst, meine Mutter nicht wiederzusehen.
Am darauffolgenden Tag beginne ich, für meinen Vater und meine Schwestern Mittag zu kochen. Ich bin dreizehn und brauchte das bisher nicht zu machen. Das Kochbuch neben den Topf gelegt und es geht los. Bratwürste. Sie müssen schräg eingeritzt werden, damit sie ein krustiges Oberteil bekommen. Jetzt bin ich direkt ein wenig stolz, fühle mich verantwortlich. So vergeht wieder ein Tag der Ungewissheit.
Dann, endlich, am Mittwoch kommt die befreiende Nachricht: Mutter liegt hier im Krankenhaus. Gehirnerschütterung. Wir besuchen sie. Sie erkennt uns kaum. Wirkt schwach und zerbrechlich. Wir erfahren, was geschehen war. Nachdem sie am Sonntag am S-Bahnhof mitbekommen hatte, dass keine Züge mehr Richtung Westberlin fahren, will sie wieder nach Hause gehen. Auf der Hauptstraße, die sie überqueren muss, rollen unentwegt Panzer. Sie geht bis zur Straßenmitte. Als sie erkennt, dass kein Durchkommen möglich ist, will sie wieder auf den Bürgersteig zurück und wird dabei von einem Motorrad erfasst. Sie verliert das Bewusstsein. Eine Platzwunde klafft in ihrem Kopf, und sie kommt ins Krankenhaus.
Das alles spielt sich praktisch direkt vor unserem Haus ab. Wegen der ganzen Wirren hat man es wohl versäumt, uns gleich zu benachrichtigen. Unglaublich. Ich verstehe nicht, wie das passieren konnte. Meine Mutter braucht noch mehrere Wochen, bis ihre Wunde heilt.
Die Wunde aber, die an jenem Tag in die Stadt geschlagen wurde, soll erst achtundzwanzig Jahre später wieder verheilen können. Ein langer Heilungsprozess wird nötig sein. Es werden Narben zurückbleiben, wie bei meiner Mutter.