Die Sanduhr
Nie in meinem Leben werde ich diese Fahrt nach Luzern vergessen, wie ich blind vor Trauer und Hilfslosigkeit mein Auto durch die belebten Straßen steuerte.
Zum Glück kannte ich die Strecke auswendig, bin ich sie doch so oft gefahren, dass die Male zusammenzuzählen mir unmöglich ist. Wie viele Jahre es waren, weiß ich jedoch genau: fünfundvierzig!
Als frisch verheiratete Frau hatte ich meine Eltern in Luzern besucht, dann brachte ich meine Kinder zu ihnen in die Ferien, und viel später fuhr ich hin, um meiner Mutter zu helfen, als es ihr nicht mehr gut ging.
Ich versuchte mich während der Fahrt abzulenken und dachte an die Mutter zurück, die noch voll Energie und Pläne war und bei der wir immer willkommen waren. Doch der Gedanke an die Vergangenheit löste in mir noch mehr Schwermut aus.
Zwei Stunden später brachte mich der Lift in den 11. Stock des Wohnblockes und ich verharrte ein paar Sekunden vor der Türe, hinter der mich all die Jahre so viel Geborgenheit und Liebe erwartet hatten. Es würde nie mehr so sein. Mein Herz raste, zugleich schien sich ein Schraubstock darum zu legen. Ich atmete tief durch, bevor ich eintrat, und bemühte mich, meine Stimme in den Griff zu bekommen. «Hallo, Mama, ich bin da!»
Meine Mutter saß auf dem Bettrand, in sich zusammengefallen, und streckte mir ihre dünnen Arme entgegen. «Schön, dass du da bist, Kleines.»
Schluchzend schmiegte ich mich an sie und wurde wieder zu dem kleinen Mädchen, das Trost bei seiner Mutter suchte. Liebevoll streichelte sie mir den Rücken und redete mir gut zu, obwohl ich diejenige war, die sie trösten sollte!
«Alles wird gut, mein Liebes. Es stimmt für mich und ich bin beruhigt, dass es diese Lösung gibt.»
Mit einem letzten Funken Hoffnung sah ich sie an. Vielleicht konnte ich sie doch noch davon abbringen. Aber die Entschlossenheit in ihren einst so leuchtenden Augen nahm mir jede Illusion, es zu versuchen.
Gequält fragte ich: «Wann?» Mehr brachte ich nicht über die Lippen.
«Übermorgen um neun Uhr.»
Automatisch sah ich auf den Wecker, der zwischen den eingerahmten Bildern auf einer alten Kommode stand. Die vielen Fotos zeugten von einem lang gelebten Leben. Fast nüchtern stellte ich fest, dass die Zeiger elf Uhr zeigten und uns zwei Tage blieben. Genau gerechnet, noch 46 Stunden.
Es kam mir wie ein Albtraum vor und ich wartete darauf, dass mich jemand wachrüttelte. «Bist du sicher, dass du es willst?», schniefte ich verzweifelt.
Sie nickte entschlossen. «Ich war mir in meinem Leben noch nie so sicher. Sei bitte nicht traurig.»
Wie konnte sie das von mir erwarten!
«Machst du uns noch einmal deine feinen Rösti? Ich werde nie mehr in meinem Leben so leckere …» Sie unterbrach den Satz und ein paar Tränen kugelten über ihre eingefallenen Wangen.
Meine Gedanken waren überall, nur nicht bei der Vorbereitung der Rösti. Irgendwie gelang es mir dann doch, dass sie knusprig braun in der Pfanne brutzelten.
«Mama, soll ich dir das Essen ans Bett bringen?», rief ich aus der Küche.
Da ich keine Antwort erhielt, schaute ich nach ihr und fand sie mit geschlossenen Augen auf dem Bett liegend. Mein Herz setzte eine gefühlte Ewigkeit aus, bevor ich wahrnahm, dass ihr Brustkorb sich bewegte. Erleichtert legte ich die Hand auf ihre Schulter.
Sie hob erschrocken den Kopf. «Schon fertig? Ich muss wohl eingeschlafen sein.» Langsam folgte sie mir ins Esszimmer und ich fragte mich, ob ich wirklich erleichtert war?
Keine Ahnung, wie die Rösti schmeckten. Lustlos stocherten wir in unseren Tellern. Es war früher Nachmittag, als ich das kaum angerührte Essen wegräumte.
Noch 43 Stunden.
Die Stunden verstrichen schleppend und zugleich schnell.
In der Nacht schlief ich kaum und meine Mutter hatte vermutlich auch kein Auge zugemacht. Den nächsten Tag verbrachten wir auf der Terrasse zwischen der Blumenpracht, auf die sie so stolz war, und sprachen zuerst über belanglose Dinge. Zwischendurch schwiegen wir und jeder versank in seine Gedanken. Mein Herz war zum Bersten voll, als sei es kurz davor, zu explodieren.
Gegen Abend wurde es merklich kühler, doch meinen Vorschlag, in die Wohnung zu gehen, wies sie vehement zurück.
«Du wirst dich erkälten.», sprach die fürsorgliche Tochter in mir. Sogleich wurde mir klar, dass es keine Rolle mehr spielte.
Immer wieder schielte ich auf die Uhr.
Noch 15 Stunden.
Eine geraume Zeit der Stille verstrich, bis meine Mutter das Schweigen brach. «Du weißt, wie sehr ich dich liebe, nicht wahr?»
Ich nickte und unterdrückte ein Schluchzen.
Sie begann ihre Lebensgeschichte zu erzählen, die ich bereits auswendig kannte, weil ich sie schon so oft gehört hatte. Trotzdem sog ich jedes ihrer Worte ein, wie die Luft, die man zum Atmen braucht. Sie machte sich Gedanken, was wohl aus ihren Enkeln, Urenkeln und ihren Blumen werden würde. Aus ihrer Brust löste sich ein tiefer Seufzer und ihr Blick schweifte in die Ferne. Nach einer kurzen Pause fuhr sie fort: «Ein wenig neidisch bin ich schon, wenn ich daran denke, dass jemand anderer von meiner Terrasse aus meinen schönen Wald sehen wird und meine Vögel zwitschern hört.»
Bei diesen Worten musste ich trotz meines Kummers schmunzeln.
Die Kirchenglocke schlug Mitternacht, als sie aufstand und ihre geliebten Blumen verließ.
«Möchtest du, dass ich bei dir im Zimmer übernachte?», bot ich ihr an.
«Nein, ich möchte allein sein, danke.»
Auf ihren Wunsch hin ließ ich sie mit ihren Gedanken, Ängsten und vielleicht auch Hoffnungen allein.
Noch 9 Stunden.
Lange wälzte ich mich ruhelos im Bett, bis ich es nicht mehr aushielt. Ich schnappte mir eine Decke und legte mich draußen auf ihren Liegestuhl, der etwas erhöht auf einem Podest stand. Meinen Kopf bettete ich auf ihr Kissen und der vertraute Geruch von Lavendel, gemischt mit gebratenem Öl und Voltaren-Salbe stieg mir in die Nase, während ich auf ihrem ‚Thron‘ lag, wie sie ihn liebevoll nannte. Eigentlich mochte ich diesen Geruch nicht besonders, doch jetzt in diesem Augenblick war es für mich der kostbarste Duft der Welt.
Unterdessen begann der Morgen zu dämmern und ich lauschte dem Gezwitscher der Vögel aus dem naheliegenden Wald, die lautstark den neuen Tag ankündigten.
Noch 5 Stunden.
Ich war mir sicher, dass meine Mutter die ganze Nacht über ihr Leben nachgedacht hatte. Was sie wohl fühlte und durchmachte? Sie wollte die letzten Stunden allein verbringen, nicht einmal mich, die sie so sehr liebte, wollte sie bei sich haben. Ich bat den lieben Gott, dass er sie doch bitte heute Nacht erlöse, damit uns all das, was noch vor uns lag, erspart blieb. Um sechs Uhr schlich ich zu ihrer Türe und horchte. Das Rascheln von Papiertaschentüchern und ein heiseres Husten verrieten mir, dass der liebe Gott meine Bitte nicht erhört hatte.
Noch 3 Stunden.
Dann ging alles sehr schnell. Obwohl ich vorbereitet und bei allen Besprechungen dabei gewesen war, konnte ich nicht ahnen, was auf mich zukommen würde.
Der Arzt und die Sterbehilfe, die meine Mutter durch den ganzen Prozess betreut hatten, kamen um acht Uhr und bereiteten ihr Schlafzimmer für den letzten Akt vor, während meine Mutter zusah und mit ihnen sprach, als würde das Normalste auf der Welt geschehen.
«Es ist alles vorbereitet. Möchten Sie noch ein wenig mit ihrer Tochter allein sein?», fragten sie meine Mutter.
«Nein, wir haben uns alles gesagt. Ich möchte es hinter mich bringen.» Sie zog ihre Armbanduhr vom Handgelenk und warf sie auf die andere Seite des Bettes. «Die brauch ich nicht mehr.» Das war die einzige heftige Reaktion in diesen zwei Tagen, die bewies, dass auch ihre Nerven blank lagen.
Jetzt zählte ich nicht mehr die Stunden, sondern die Minuten, die nicht vergehen wollten. Vor mir sah ich eine Sanduhr, in der der Sand fast unmerklich durch die Verengung rinnt. Doch dann plötzlich ist der Sand unten angekommen. Und die Zeit ist um.
Ich hielt ihre Hand, streichelte ihr Gesicht und versicherte ihr, wie sehr ich sie liebte und vermissen würde. Doch sie schien meine Worte nicht wahrzunehmen, denn sie zeigte keine Emotionen mehr.
Ihre letzten Worte an mich waren nüchtern und ganz ohne Drama: «Also, Tschüssi.» Sie warf mir noch einen Kuss zu.
Dann drehte sie am Hebel der Infusionsflasche und schloss die Augen.
Es war neun Uhr.
Alles erschien mir surreal, als sei ich gar nicht dabei.
Wenn ich nach Luzern zum Grab fahre, bin ich traurig, doch ich weiß, dass sie sich mit dieser Entscheidung vieles erspart hat. Nicht nur sich, sondern auch uns.
Der Friedhof liegt direkt hinter dem Wohnhaus meiner Mutter, und wenn ich in die Straße einbiege, gilt mein erster Blick der Terrasse, wo früher ein leuchtendes Blumenmeer mir den Weg zu ihr gezeigt hatte. Keine einzige Blume begrüßt mich mehr und die gähnende Leere, die mich von oben anstarrt, legt sich wie ein dunkler Schatten über mein Herz.
Ihre Blumen sind weg, aber ihr geliebter Wald steht noch immer, und ihre Vögel zwitschern fröhlich weiter. Ich bilde mir ein, sie singen allein für meine Mutter.