Danach war es still
Danach war es still
Stille, endlich Stille. Mit verträumtem Blick schaute er nach draußen. Die Aussicht aus dem zehnten Stock des Gebäudes war atemberaubend. Besonders heute. Die aufgehende Sonne färbte die Szenerie in ein warmes, rötliches Licht und die aufgerissene Wolkendecke türmte sich wie Berge im Hintergrund, während kleine Wolkenfetzen zügig vorbeiflogen. Das Fenster war gekippt und ein kühler, erfrischender Luftzug strömte herein. Tief atmete er die kühle Brise ein, spürte, wie seine Lungen sich weiteten und eine angenehme Entspannung seinen Körper erfasste.
Sein Blick schweifte weit in die Ferne. Der Sonnenaufgang war traumhaft schön. Und es war so herrlich still.
Um sich herum nahm er nichts mehr wirklich wahr. Sein Körper fühlte sich so wunderbar entspannt an, dass es ihm fast lästig war, sich zu bewegen. Wie durch Watte hörte er ganz weit entfernt die Geräusche, die die Einsatzkräfte machten, als sie das Büro stürmten. Schwer bewaffnete Polizisten huschten wie Schatten durch sein Gesichtsfeld. Kaum ein Muskel spannte sich an, als jemand ihm die Arme auf den Rücken drehte und ihm Handfesseln anlegte. Er ließ es einfach über sich ergehen. Auch während er gegen die Fensterfront gedrückt wurde, wandte er seinen Blick nicht ab von diesem friedlichen, wundervollen Bild, das sich ihm draußen bot. Er hörte nicht zu, als ihn der Polizist schräg hinter ihm etwas fragte und reagierte nicht darauf. Alles, was er wollte, war seine Ruhe.
Er hatte in dieser Nacht hervorragend geschlafen und sich ausgeruht und entspannt gefühlt, als sein Wecker um sechs Uhr geklingelt hatte. Der Morgen war so friedvoll gewesen. Er war aufgestanden, hatte geduscht, sich angezogen und sich Frühstück gemacht. Dann war er noch eine Weile ruhig am Tisch sitzen geblieben, um die Stille zu genießen. Die herrliche Stille. Anschließend hatte er seine Tasche fürs Büro gepackt, sich die Zähne geputzt und sich auf den Weg zur Arbeit gemacht. Es war der letzte Arbeitstag in diesem Jahr gewesen. Während er den zwanzigminütigen Weg ins Büro zu Fuß gegangen war, hatte er in seinen Gedanken das Jahr Revue passieren lassen. Für ihn war es ein anstrengendes Jahr gewesen mit vielen Herausforderungen. Es waren viele sehr unerfreuliche Dinge passiert, und manchmal hatte er nicht gut auf sich und seine Grenzen geachtet. Oft hätte er sich stärker durchsetzen müssen. Das war ihm nach langen Überlegungen schließlich klar geworden. Und er hatte sich entschieden, daran etwas zu ändern. Im nächsten Jahr sollte alles anders werden.
Vor etwas weniger als zwölf Monaten hatte er in dieser Firma zu arbeiten begonnen. Anfangs waren noch alle sehr nett zu ihm gewesen. Doch die Stimmung war schnell umgeschlagen. Plötzlich hatte sich die Kollegschaft ihm gegenüber sonderbar verhalten. Dabei hatte er sie doch lediglich darauf hingewiesen, dass er seinen Schreibtisch gern in Ordnung habe, und dass es ihm gelegentlich ein wenig zu laut gewesen sei im Großraumbüro. In seinem vorigen Job hatte es mit so etwas nie Probleme gegeben. Dort hatte er seinen eigenen Schreibtisch, sogar ein eigenes Büro gehabt. Doch hier wurde auf Grund der Corona-Pandemie teils im Homeoffice, teils im Büro gearbeitet. Und im Büro gab es keine festen Arbeitsplätze. Hier setzte man sich an einen der zehn Tische, der gerade frei war. Und jedes Mal, wenn er sich an einen Schreibtisch gesetzt hatte, war etwas anderes in Unordnung gewesen. Mal waren Kaffeeränder auf der Tischplatte, dann Krümel auf der Tastatur, manchmal war die Maus klebrig gewesen. Ein Kugelschreiber hatte einmal mitten auf dem Tisch gelegen, anstatt in dem dafür vorgesehenen Stiftehalter. Und dann dieser Lärm. Dieser furchtbare Lärm. Alle hatten gleichzeitig telefoniert, gesprochen, ihren Kaffee geschlürft, beim Essen geschmatzt, mit dem Kugelschreiber geknipst. Er hatte all dies jedes Mal angemerkt und um mehr Ordnung und mehr Ruhe gebeten. Doch stets hatte er nur erstaunte Blicke oder ein desinteressiertes „Ja ja“ zur Antwort erhalten. Als er dann schließlich eines Tages ins Büro gekommen war, sich an einen der leeren Schreibtische hatte setzen wollen und an der Stuhllehne ein langes blondes Haar hatte hängen sehen, war seine Grenze eindeutig überschritten gewesen. Er war aufgestanden und hatte mit hochrotem Kopf in voller Lautstärke losgebrüllt. Mit irrem Blick und zitternden Fingern hatte er voller Wut mit einem Taschentuch das Haar von der Stuhllehne genommen, hastig nach dem Papierkorb gegriffen und es demonstrativ hineingeworfen. Danach hatte er sich hektisch mit mehreren Desinfektionstüchern die Hände geschrubbt, bis sie rot geworden waren. Alle hatten ihn angestarrt. Das Entsetzen auf den Gesichtern war ihm völlig entgangen. Im Büro war es schlagartig still geworden. Herrlich still.
Doch die Stille war plötzlich durchbrochen worden. Ein Kollege hatte erst leise gegluckst und schließlich laut losgeprustet. Dann der nächste, die nächste, und am Ende hatte die gesamte Kollegschaft schallend über ihn gelacht. Schallend und laut. Es war so unerträglich laut gewesen. Danach war alles noch schlimmer geworden. Wenn er etwas gesagt oder gefragt hatte, hatte er zur Antwort bekommen: „Wie bitte? Könntest du vielleicht etwas lauter sprechen? Ich habe dich nicht verstanden!“ Ihm war absichtlich der randvolle Papierkorb an den Schreibtisch gestellt worden, beim Telefonieren war mit dem Kugelschreiber geknipst oder die Krümel vom Radiergummi auf dem Tisch hinterlassen worden. Zum Geburtstag im Sommer hatte er eine Packung Desinfektionstücher geschenkt bekommen und zu Weihnachten eine Miniatur-Version von Handfeger und Schaufel sowie einen kleinen Tisch-Mülleimer. „Wir haben sie nicht eingepackt, denn du magst ja keinen Müll.“ Jedes Mal hatten sie dabei gelacht. Er hatte gute Miene zum bösen Spiel gemacht und sich jedes Mal ein Lächeln abgequält.
An diesem Tag hatte er seinen Weg zur Arbeit sehr achtsam und bewusst zurückgelegt. Aufmerksam hatte er seinen Atem bei jedem Schritt beobachtet und wahrgenommen, wie die kühle Luft bei jedem Atemzug in seine Nase gestiegen war und ihn belebt hatte. In der Firma angekommen hatte er sich gegen den Flügel der schweren Drehtür aus Glas gelehnt und das Gebäude betreten. Das Warten auf den Fahrstuhl war ihm wie eine Ewigkeit vorgekommen. Die Fahrt nach oben hingegen war ihm sehr kurz erschienen, doch lang genug, um zu spüren, wie seine Entspannung allmählich einer unbändigen Vorfreude gewichen war. Zehnter Stock. Die Türen hatten sich geöffnet, und er war langsam auf den Flur getreten. Nur noch ein paar Schritte. Noch einmal tief durchatmen. Langsam hatte er die Klinke der Glastür zum Büro herunter gedrückt und ein Lächeln hatte sich auf seinem Gesicht ausgebreitet. Während er durch die Tür gegangen war, hatte er gleichzeitig in seine Tasche gegriffen und die Maschinenpistole heraus gezogen. Ohne zu zögern hatte er das Feuer eröffnet.
Panik war ausgebrochen. Schreie, Klirren, Poltern, Blut, Menschen, die an ihren Schreibtischen zusammengebrochen waren. Schritt für Schritt war er weiter in das Büro hinein gegangen und hatte ziellos um sich geschossen. Einem Kollegen war die Flucht gelungen. Doch das hatte ihn nicht gekümmert.
Keine zwei Minuten später hatte er das Feuer eingestellt. Danach war es still. Die aufgehende Sonne hatte ein paar Strahlen in den Raum geworfen und orangefarbene Streifen zwischen die blutroten Flecken auf den grauen Teppich gemalt. Er war ans Fenster getreten. Dieser wundervolle Blick und diese herrliche Stille.
Als er abgeführt wurde, versuchte er noch so lange wie möglich, den Blick aus dem Fenster zu halten. So schön war der Sonnenaufgang. Und es war so herrlich still.