Quid pro quo
„Auf dem Kopfsteinpflaster haben Sie es ja immer besonders schwer mit dem Rollstuhl, Frau Hegele!“ Wie jeden Samstag begrüßte die Marktfrau Ruth mit diesen Worten. Und wie immer erwiderte Ruth fröhlich: „Ach, das hält fit!“ Sie legte dem Mann im Rollstuhl mit der hohen Kopfstütze liebevoll die Hand an die Wange: „Heute ist so ein wunderbarer Tag, nicht wahr, Schatz?“ Sie waren ein vertrauter Anblick: Der große Mann, regungslos in seinem Stuhl. Und die kleine, unscheinbare Frau, die sich jede Woche mit dem unhandlichen Gefährt auf dem Kopfsteinpflaster abmühte. Immer heiter und gelassen, nie klagte sie.
Farbenfroh leuchteten die Obstsorten am Stand, als wollten sie dem Frühlingstag Konkurrenz machen. „Die ersten Erdbeeren, die hat mein Horst immer besonders gerne gegessen“, sagte Ruth zu der Verkäuferin. „Da nehmen wir doch ein Körbchen!“ Aus dem Mund des Mannes kam ein Gurgeln, seine Augen weiteten sich. Ruth tätschelte ihm die Wange: „Ja, ich weiß, die liebst du!“ Die Marktfrau reichte ihr eine der saftig-roten Früchte, „vielleicht möchte Ihr Mann ja mal probieren?“ „Nichts lieber als das!“
Ruth hielt ihm die Frucht an die Lippen, beugte sich nah zu seinem Ohr und zischte: „Rein damit, aber dalli! Sonst schieb ich dir zuhause ein Kilo in deinen Allerwertesten, wir wollen doch die nette Dame nicht enttäuschen!“ Dabei verlor sie keinen Moment ihr liebevolles Lächeln. Gerührt beobachtete die Obsthändlerin, wie Horst Hegele die Augen schloss und sich von seiner Frau füttern ließ. Ruth bezahlte, wie immer auf den Cent genau, und ging weiter. „So ein feiner Mann, der Dr. Hegele! Der Herrgott straft leider manchmal die Guten!“ rief ihr die Marktfrau zum Abschied hinterher.
In etwa zwei Stunden würde sich quälender Juckreiz bei Horst einstellen. „Wie schrecklich, wenn man sich nicht kratzen kann“, dachte Ruth mit einem tiefen Gefühl der Zufriedenheit und erledigte die weiteren Einkäufe.
Zuhause angekommen, sprach sie in freundlichem Plauderton auf ihren Mann ein, während sie zu Mittag aß: „Dieser Käse, köstlich! Zu blöd, dass du ihn nicht probieren darfst.“ Anschließend traf sie fröhlich vor sich hin summend letzte Vorbereitungen und informierte ihn dann über ihre Pläne: „Stell dir vor, bald sehe ich den Zuckerhut!“ In seine nun weit aufgerissenen Augen trat ein stummes Flehen, sie drückte ihm einen Kuss auf die Stirn: „Ach, lass gut sein. Ich schreibe dir mal eine Postkarte. Vielleicht.“ Die Träne, die über seine eingefallene Wange rann, ignorierte sie.
Erneut schaute sie auf ihr Flugticket: Morgen um 7:10 würde es beginnen, ihr neues Leben!
Horst war mittlerweile von roten Flecken übersät und rollte mit den Augen: „Drei Jahre habe ich gebraucht, bis ich alles zusammen hatte. Zuerst hat der Bankangestellte komisch geguckt, wenn ich größere Summen abgehoben habe. Aber er kennt ja unsere Situation, die teuren Behandlungen, Medikamente.“
„Trotzdem, wenn Papa mir nicht das Häuschen vererbt hätte…“ Sie schenkte sich Sekt ein und prostete Horst zu. „Schmerzensgeld: ‚Gott legt uns eine Last auf, aber er hilft uns auch‘!“ Sie schnaubte verächtlich: Wo hatte Gott ihr jemals geholfen?
„Aber nun ist ja alles vorbei!“ Sie sprang auf und warf Horst eine Kusshand zu: „Wollen wir? Das letzte Mal füttern, Windeln wechseln. Und dann zeitig schlafen, wir wollen doch morgen fit sein!“
Bevor das Taxi in der Früh vorfuhr, war Ruth bereit. Auf ihrem Weg zur Tür hörte sie ein Stöhnen aus dem Zimmer am Ende des Flurs. Sie drehte sich zum Spiegel und musterte sich prüfend. Mit einer entschlossenen Bewegung rückte sie den kleinen Hut etwas schief: Viel besser so! Dann schloss sie leise die Haustür hinter sich.
24 Stunden später trafen ein erfahrener, älterer Polizist und seine junge Kollegin in dem kleinen Bungalow ein. Eine ruhige Frauenstimme hatte am Telefon die Adresse genannt, wo „mein Mann dringend Hilfe braucht!“ Nach den Worten: „Schlüssel steckt!“ brach die Verbindung ab.
Muffig-verfaulter Gestank, nach Exkrementen, Schweiß und Angst ließ beide die Nase rümpfen, als sie die Wohnung untersuchten.
Der Ältere inspizierte gerade die Küche, als ihn ein Schrei zu seiner Kollegin eilen ließ.
In dem Zimmer mit den abgedunkelten Fenstern fiel sein Blick zunächst auf den reglosen Mann im Rollstuhl: „Ist er tot?“ fragte er sachlich.
„Ich wünschte, er wäre es!“, antwortete seine Kollegin mit tonloser Stimme.
Nun bemerkte auch er die von Spots beleuchtete Fotogalerie an der Wand. Zahllose Bilder unmenschlicher Grausamkeit: Stets dieselbe Frau, mit grässlichen Wunden und Verletzungen, präzise dokumentiert. Meist nur sie, die Augen leer. Manchmal auch der Mann, nun dort im Rollstuhl, der sie an den Haaren zurückriss oder am Hals an die Wand drückte.
„Dr. Hegele, so ein Drecksack!“ sagte der Polizist fassungslos, „er war ewig unser Hausarzt!“
Mit Mühe rissen sich beide von dem verstörenden Anblick los und gingen zu dem Ohnmächtigen. Erst jetzt bemerkten sie den Zettel auf seinem Schoß: „Achtung!!! Allergisch gegen Erdbeeren, liebt Comté-Käse! MfG“