Das Küchenmesser
Es war einmal ein ... ein Küchenmesser. Es war einmal ein Küchenmesser! - Ein Küchenmesser?
„Was zum ...?“, murmelte Tanja vor sich hin. Ein Küchenmesser! Und überhaupt: Es war einmal? Echt jetzt?
Sie schaute mit leerem Blick auf den Bildschirm. Schon den ganzen Tag. Dabei war sie zeitig aufgewacht. Dunkel war es noch gewesen. Mittlerweile war es wieder dunkel. Nur ihr Bildschirm zeigte sich noch genauso weiß wie am Morgen.
Der alte Kaffee neben der Maus duftete längst nicht mehr einladend. Und das Schleichen des Sekundenzeigers ihrer Wanduhr war dem rasanten Kreisen des Minutenzeigers gewichen.
So schön die Stille auch war, sie brauchte Abwechslung.
„Mist“, sagte sie leise zu sich. „Verdammter Mist.“
Abwechslung schreibt keinen Text.
Björn und die Mädchen waren extra übers Wochenende weggefahren, damit sie Zeit zum Schreiben fand.
Sie hatte nichts zu Papier gebracht. Wie sollte sie ihnen das erklärten? Gänsehaut.
Draußen war es angenehm warm. Und ruhig. So schön ruhig.
Auf der anderen Straßenseite führte eine Alte ihren Malteser Gassi. Das entfernte Rauschen der Autos auf der Hauptstraße erinnerte an entspannte Urlaube an der See.
Wie wäre es mit einer Geschichte darüber? Ein junges Mädchen am Strand, eine eisgekühlte Limonade in der Hand, ein Volleyball spielender Junge wird auf sie aufmerksam, ein zaghaftes Lächeln? Die erste große Liebe? Wie sie und Björn vor Jahren?
Ihre klebrigen Hände wurden steif.
Aus einem Fenster im dritten Stock tönte jetzt Rockmusik. Nicht sehr laut. Sie konnte sogar Stimmen hören. Gelächter. Gegacker. Ein riesiger Thronsaal, in dem die feinen Leute mit den Zwergen um die Wette soffen.
„Komm, Dilgor, bechere mit uns.“
Dilgor schüttelte zaghaft den Kopf und schaute weiter aus dem Fenster.
Die gezähmten Drachen waren wie Pferde angebunden. Rauer Wind wehte über die blutroten Kronen der majestätischen Drachenbuchen. Trinklieder hallten; der lärmende Krieg der drei Lande war endlich zu Ende. Sie hatten gesiegt.
Zwei komisch dreinblickende finstere Gestalten huschten gesenkten Hauptes an Tanja vorbei. Sie tuschelten und verschwanden im Dunkel der Nacht.
Und schon war der Flow versiegt. Wussten die nicht, wie hart ihre Arbeit war?
Genau wie die Mädchen. Ständig lenkten sie vom Schreiben ab. Immerzu zankten sie. Deshalb war Björn mit ihnen verreist. Er hatte ihr den Rücken freigehalten, so wie es ein guter Partner eben tat.
Eine orange leuchtende Laterne flackerte ein paar Mal und gab dann den Geist auf. Mülltonnen versprühten einen gammeligen Gestank, der sich mit etwas Rostigem mischte.
Wie wäre es damit? Ein maschinenöldurchtränktes U-Boot im Zweiten Weltkrieg? Mitten in der hoffnungslosen, schwarzen, eiskalten Tiefe?
Die Kombüse war viel zu eng, fand Matrose Max. Seine Kleidung war feucht von der unerträglichen Hitze in diesem winzigen Boot. Der Koch schnäuzte in seine schmuddelige Schürze. Ein paar angeschlagene Kartoffeln lagen auf dem Schneidbrett.
„Na los, Junge, das Essen macht sich nicht von selbst“, mahnte der Koch.
Max nahm ein Küchenmesser, als es plötzlich einen Ruck gab. Er taumelte und stieß sich den Kopf. Blut drang aus der klaffenden Platzwunde. Viel Blut. Es kitzelte die Haut hinunter. Und wo es trocknete, begann es zu kleben.
„Alles in Ordnung?“, fragte der Koch.
„Geht es Ihnen gut, junge Frau?“, riss sie ein älterer Mann aus den Gedanken.
„Hau ab!“, raunte sie. Wieso konnten die sie nicht einfach nachdenken lassen?
Ein U-Boot, Max, ... Für immer weg.
„Mist!“, stieß sie aus. Sie wollte doch nur ihre Ruhe haben.
„Stehenbleiben!“, brüllte eine Uniformierte. Sie war hübsch, aber die weit aufgerissenen Augen machten alles kaputt.
„Ich sagte, stehenbleiben! - Und weg mit dem Messer!“
Welches Messer? Tanja blickte verwirrt hinab. Überall getrocknetes Blut und ... ein Küchenmesser. Sie hielt es mit verkrampfter Hand fest. Panik stieg in ihr auf. Bilder schossen ihr durch den Kopf.
Die Mädchen zankten. Wie immer. Und Björn tat mal wieder nichts. Zockte nur und rief: „Hört auf Mama.“
„Aber Luise hat ...“, brüllte die eine.
„Gar nicht wahr. Marie ist so eine Lügnerin!“, schrie die andere.
„Hört auf Mama.“ Björn spielte ohne Unterbrechung weiter. War das seine Unterstützung? Verstand er sie überhaupt?
Das kalte Küchenmesser sagte: „Nimm mich.“
Es glänzte so schön in ihrer Hand. Eine elegante Klinge. Perfekt zum Schneiden von Fleisch.
„Benutze mich.“
Entsetzliches Quieken.
„Mama, nein!“, hörte sie in der Ferne.
Die Zimmer färbten sich rot wie die Kronen der Drachenbuchen. Mit jedem Schwung nahm der Lärm ab. Im Kinderzimmer zuerst. Danach im Flur.
Endlich war es still. Mechanisch setzte sich Tanja an den Laptop.
Die Taschenlampe der Polizistin blendete sie.
„Weg mit dem Messer, jetzt!“
„Oh Gott“, murmelte Tanja. Sie blickte auf ihre bebenden Händen.
„Es, es war einmal ein ... Es war einmal ein Küchenmesser. - Ein Küchenmesser. - Ein Küchenmesser.“