Perfekte Imperfektion
Sari Leonie und Chris Dharma waren sich schon einige Male begegnet. Wenn sie sich trafen, redeten und redeten sie. Er sprach über Farben, sie über die Antike. Jedes Mal spürte sie die federleichte Berührung seiner Blicke, aber auch diesen Klotz am Bein.
Heute war sie zu seiner Ausstellung gekommen, in seine Malerwerkstatt.
Südlich von Ubud führte eine holprige kleine Straße zwischen den grünen Reisfeldern zu einem alten Gehöft. Die balinesische Werkstatt bestand aus alten Mauern, Fenstern und viel Licht. Die schwülwarme Luft trug den Geruch von Ölfarbe und Terpentin. Fertige Bilder waren entlang der Wände ausgestellt. Hinten waren die unfertigen, verhüllt.
Sari Leonie stand vor einem Bild, die Daumen in den Gürtel der grünen Leinenhose geklemmt. Ihr Gesicht und Arme zeigten Überreste von Staub und Lehm, unter den Fingernägeln war Erde. Als käme sie direkt von einer Ausgrabung – was auch stimmte. Heute hatten sie beim Abtragen der Erde eine antike Keramikscherbe entdeckt, ein absolutes Highlight.
Sie sah die fröhliche Frau auf dem Bild, mit klugen Augen und einem zerzausten Lächeln, im Schneidersitz am Strand. Durch ihre Hände rieselt der Sand. Sie roch das Meer und sah die Sonne. Die hellen Wolken kämpften mit dunklen über ozeanblauen wilden Wellen. Perfektion und Chaos, Dunkelheit und Licht. Sari Leonie legte ihren Kopf auf die Seite, als würde sie im Bild etwas suchen.
Aus den Augenwinkeln nahm sie wahr, dass Chris sich neben sie stellte. „Wie gefällt es dir?“, fragte seine tiefe Stimme. Ohne ihn anzusehen, spürte sie seine Präsenz. Ein Kribbeln. Sie sog sein Sandelholzaroma ein. Ihr Herz pochte gegen ihre Rippen.
Er stand ein bisschen zu nah, um einfach nur mit einem Gast über seine Bilder zu reden. Und doch ein Mü zu weit weg, um es wirklich zuzugeben.
„Wunderschöne Figur. Lebendig. Perfekt. Du malst, als würdest du sie kennen“, hörte Sari Leonie sich antworten.
Chris drehte sich zu ihr. „Vielleicht tue ich das“, antwortete er. Sie sahen sich an.
Er begann zu reden – von Licht und Dunkel, Perfektion und Brüchen. Als ihm seine langen, dunklen Haare ins Gesicht fielen, strich er sie mit einer Hand voller Farbflecken hinters Ohr. Sein Blick fiel auf ihr Gesicht, dann weiter hinunter bis zu ihren Füssen. Und wieder hinauf zu ihren Augen.
Sie starrte wie gelähmt zurück, konnte sich nicht bewegen. Er musste es gesehen haben, ihren Klotz. Sie biss sich auf die Lippen.
„Ich sehe dich in diesem Bild, Sari“, sagte er, „Perfektion und Lebendigkeit.“
„Chris, ich bin keine Muse, ich grabe Knochen aus der Erde. Und die Tongefäße, die ich finde, haben Risse.“
Chris fasste sie am Arm, fast zärtlich, und murmelte in ihr Ohr: „Und ich male lebendige Menschen, mit ihren Rissen. Perfekte Imperfektionen.“ Hatte er das wirklich gesagt...? Sie fühlte, wie sich etwas in ihr löste.
Die Ausstellung ging weiter. Sari Leonie hörte Chris mit anderen Gästen sprechen. Wie es sich wohl anfühlen würde, in seinen Armen zu liegen? Den Klangkörper seiner Stimme zu fühlen? Was, wenn er sie wirklich ganz sah? Sah er sie dann noch als perfekt an? Konnte sie je wirklich loslassen? Sie spürte ein schmerzhaftes Zucken in ihrem linken Bein, bis in diese verfluchten Zehen.
Die anderen Gäste waren gegangen. Auch Sari Leonie drehte sich um, um sich von Chris zu verabschieden.
„Bleib doch“, lud er sie ein.
„Ich bin nicht gut im Hier und Jetzt, Chris. Ich grabe zu sehr in der Vergangenheit.“
„Und ich verliere mich auf der Leinwand in dem, was meine Zukunftsträume sind. Vielleicht können wir uns in der Mitte treffen?“
Er fügte hinzu, „Schau dir noch mein neues Bild an, das ich gerade male, bevor du gehst.“
Er schob sie sanft zu einer Staffelei an der Rückseite der Werkstatt, zu einem verhüllten Bild. Er stand dicht hinter ihr. Sie konnte sich fast anlehnen. Und loslassen. Sie spürte seinen Atem. Ihr Klotz am linken Bein, er war fast nicht mehr zu fühlen. In Sari Leonie brach Panik aus, sie verlor ihren Halt.
Sie schaute kurz über ihre Schulter in sein Gesicht. Seine braun gesprenkelten Augen flackerten. War er sich nicht sicher, wie sie seine Bilder fand?
Langsam lüftete sie den Stoff. Ihr stockte der Atem. Sie sah sich selbst, grüne Augen strahlten unter braunen Locken. Sie stand im Wasser, in ihrer Hand eine kleine Opferschale, gefüllt mit Blüten und Räucherwerk, und sie entließ die Opferschale ins Wasser. Es war Melasti, das Reinigungsfest vor dem balinesischen Neujahr Nyepi. Und mit der Opferschale wurden ihre Geister und Ängste über das Wasser losgelassen. Sie sah das Wrack, ihr verunfalltes Motorrad, ihre linke Fuß-Prothese, wie sie über das Wasser davon schwebten.
„Woher weißt du…?“
„Wir alle haben unsere Geister.“
Der Klotz an ihrem linken Bein, er war leicht geworden, federleicht.
Sie drehte sich langsam um, kam ihm entgegen. Fast zögernd hob Chris seine Hand, berührte leicht ihr Gesicht mit seinen Händen, und dann ihre Arme. Wie ein Maler, der sie malte. Ganz.