Rosen
Prolog
Es gibt Orte, an denen einfach nichts passiert. Orte, an denen es so langweilig ist, dass sich nicht einmal der kleinste Kleinkünstler dorthin verirrt. Orte, an denen Autoritäten noch etwas gelten, weil es ja sonst kaum etwas gibt, das was gilt. Darauf kann man aber auch vertrauen. Es sei denn, man ist ein Kind.
„Es ist ein Kaff. Ich wiederhole mich ungerne, es ist ein echtes Kaff, und in einem Kaff passiert nichts. Das ist quasi die Definition von Kaff.“ Krüger versucht, seine Gereiztheit zu verbergen. Kinder können extrem nervig sein. Nur weil irgendeine Trulla nicht mehr auftaucht, die ihnen ein paar Mal Bonbons und nette Worte zugesteckt hat, wittern diese Rotzgören einen Mord. Es ist einfach lächerlich.
„Und wo ist sie dann, die Elise? Die hat gesagt bis morgen, und jetzt ist morgen, aber Elise ist nicht da. Wir finden das höchst merkwürdig.“ Die drei bauen sich vor ihm auf. Ein Mädchen mit verstrubbelten Haaren (dass da mal keine Tiere drin wohnen, denkt Krüger), der kleine Sohn vom versoffenen Fliesenleger und noch ein – Krüger guckt nochmal hin – ja, ein Mädchen offenbar, mit raspelkurzen blonden Haaren (waren wahrscheinlich Tiere drin, denkt Krüger, und dann ab die Mähne). Stichwort Ungeziefer. Seine Gedanken schweifen zu seinen Rosenbüschen. Er mag kein Gift, aber wenn sich diese klebrigen, dicken Ansammlungen von grünen Blattläusen knäulen, dann muss manchmal Gift her. Früher gab es Marienkäfer für den Job. Jetzt muss er halt mit der Spritze ran. Er kümmert sich gut um seine Rosen, das macht ihm so schnell keiner nach.
„Das geht nicht mit rechten Dingen zu. Da ist ganz bestimmt was passiert.“
„Es ist ein Kaff“, leiert Krüger nun endlich auch hörbar genervt. „Wie ich schon sagte, hier passiert nichts.“ „Auch kein Mord?“ „Erst recht kein Mord. Eurer Elise wird das hier zu langweilig geworden sein, und dann ist die in den Zug und zurück in die große Stadt, aus der sie kam. Reisende soll man nicht aufhalten.“ Krüger möchte der Situation gerne entkommen. Dass Kinder immer fragen müssen. Dieses ständige Was? Wieso? Warum? Wie jetzt? Er kann es nicht mehr hören. Und muss er doch auch nicht, oder? Er ist ja schließlich der höchste Polizist hier im Ort. Und damit doch so etwas wie das letzte Wort. Der, der sagen kann „Howgh, ich habe gesprochen.“ Und dann halten sich alle daran. So wie die anderen Dorfbewohner.
Da fragt keiner mehr blöd. Die lassen ihre Türen offen. Die vertrauen darauf, dass hier nichts passiert. Die haben begriffen, dass es ein Kaff ist.
Diese Gören sind ungefähr so alt wie er damals. Er erinnert sich gut an dicke Knospen an dem Rosenbusch im Vorgarten. Seine Mutter hat das Aufblühen nicht mehr gesehen. Sie ist verschwunden kurz vor der Blüte, einfach so. Hat ihn allein gelassen. Kein Abschied, keine Erklärung, nichts. Jetzt bloß nicht daran denken, ermahnt er sich. Nicht denken an die einsamen Tage vor dem Rosenbusch. Nicht denken an durchgrübelte Kindheitsnächte.
Immerhin hat er jetzt den schönsten Garten von allen. Üppig blühende Duftrosen. Alte Sorten. Sein ganzer Stolz.
Er hat Blütenpracht von Mai bis in den Oktober. Er mag die lachsfarbenen Blüten, die ihn an seine erste Freundin erinnern (eine Haut wie Pfirsich, hat er immer gesagt). Er mag auch die tiefroten, die wie teurer Lippenstift schimmern, und die rosafarbenen Blüten und die gelben. Es gibt noch so viele Farben, überlegt er und geht seinen Gedanken hinterher. Das Purpurne. Das reine Weiß. Das …
Ein Zupfen an seinem Ärmel reißt ihn aus seinen Gedanken. „Du, Herr Krüger…“ Die Kinder geben einfach keine Ruhe. „Wenn du uns nicht helfen willst, dann ermitteln wir halt allein. Wir wissen Bescheid.“ Der Fliesenlegerbengel zieht eine Pappkarte der drei Fragezeichen aus seiner Tasche. Beilage aus einem Hörspiel. „Das sind wir. Wir übernehmen jeden Fall.“ „Ja, und wir haben Elise zum Beispiel vorgestern aus deinem Haus kommen sehen. Und genau da fangen wir mal an zu ermitteln.“
Er wird die so nicht los. Die sind echt hartnäckig, denkt er. Keine so Schlafschafe wie der Rest der Dorfbewohner. Nicht einmal Schlaflämmer. Er muss einlenken. Krüger frisst innerlich Kreide. „Gut, ihr habt gewonnen. Kommt mit. Wir ermitteln zusammen.“ Die kleine Prozession setzt sich in Bewegung. „Schöne Rosen“, sagen die Kinder andächtig, als sie mit ihm durch den blühenden Garten stapfen. „Ja“, sagt Krüger, „welche Farben mögt ihr eigentlich am liebsten?“
Sie war wirklich eine ausnehmend schöne Frau gewesen, diese Elise. Ein wenig eingebildet vielleicht, ein bisschen Großstadtgetue und eine wenig romantisierend, was das Dorfleben anbelangt. Aber auch gutgläubig und ein wenig naiv. Und sie wollte dann auch weg. In die Großstadt zurück. Zurück zu Cafés mit Latte Macchiato. Latte Macchiato, so ein großstädtisches Quatschgetränk. Sie hätten es gut zusammen haben können, mit Filterkaffee halt. Oder vielleicht hätte er sich ja für sie auch so einen Vollautomaten zugelegt. Er ist ja kein Hinterwäldler. Er hätte ihr zeigen können, wie weltmännisch er ist.
Sie wird eine weiße Rose bekommen, überlegt Krüger. Eine Ramblerrose dieses Mal. Sie wollte ja hoch hinaus. Cremeweiß werden die Blüten sein. Cremeweiß wie der Milchschaum auf einem Latte Macchiato.
Und drei kleine Rosenbüsche braucht er auch noch.
Epilog
Es ist nun doch etwas passiert an diesem Ort.
Aber das wissen nur Sie und ich.
Elise wurde in der Anonymität der Großstadt nie vermisst. Und auch nach den Kindern hat niemals jemand ernsthaft gesucht. Das Leben im Kaff geht weiter wie bisher.
Krüger wird in seinem Leben noch einige Rosenbüsche pflanzen.
David-Austin-Rosen. Robust und winterhart.
Und auf nährstoffreichem Boden üppig blühend.