Letzte Reise
Ein weiteres Mal nahm er das Bild aus seiner Fahrradtasche und betrachtete es. Der Fahrtwind zerrte an seinem schütteren Haar, und das durchdringende Pfeifen der Turbine dröhnte in seinen Ohren, während die Fähre durch das aufschäumende Wasser pflügte. Das erste Boot hatte er knapp verpasst, sodass er drei Stunden am Hafen warten musste.
„Weil du immer so lange Zeitung liest“, hörte er sie sagen. Ihr war es immer wichtig gewesen, die erste Fähre des Tages zu nehmen. Sie liebte es, fast allein an Deck zu sein, den scharfen Meereswind im Gesicht, den Blick nach vorn gerichtet auf den flachen Streifen Land am Horizont, über sich die kreischenden Möwen. „Ist das nicht herrlich?“, rief sie.
Jetzt stand er eingeklemmt zwischen Fahrrädern, Kinderwagen und Gepäckstücken. Die Sonne brannte auf seinen Kopf. Wo hatte er seine Mütze gelassen?
Er konnte die Insel schon sehen, Hiddensee, ihr söte Länneken. Geformt wie ein umgedrehter Suppenlöffel lag sie vor ihm. Der untere Teil war lang und flach, am oberen Ende stieg die Insel zu einem Hügel an. Ganz oben schaute der Leuchtturm zwischen den Bäumen hervor.
Nachdem das Schiff in Vitte angelegt hatte, schob er langsam sein Fahrrad zwischen den anderen Passagieren von Bord. Er fuhr nicht mehr so gut Fahrrad wie früher. Trotzdem weigerte er sich hartnäckig, das E-Bike zu benutzen, das seine Kinder ihm zum Geburtstag geschenkt hatten.
Vitte war ein kleiner Ort mit weißen Häuschen, bunten Fischerbooten und, um diese Jahreszeit, mit Menschentrauben. Er tapste durch den Hafen und noch ein Stück die Straße entlang, vorbei an Pferdekutschen, kleinen Gaststätten und Fahrradverleihen. Auch das Laufen war ihm früher leichter gefallen.
Während die meisten Leute durch das Dorf bummelten oder zum Leuchtturm auf dem Hügel radelten, wandte er sich am Wegweiser nach links und stieg schwerfällig auf sein Rad. Gemächlich strampelte er den festgefahrenen Sandweg entlang und umrundete mehrere große Pfützen. Am liebsten wäre er durch sie hindurch gefahren, aber dann hätte er sich von oben bis unten mit Schlamm vollgespritzt.
„Wehe!“, hörte er sie rufen. Er wollte sie nicht verärgern.
Es ging langsam vorwärts, aber er hatte es nicht eilig. Das Meer begleitete ihn. Der Weg führte vorbei an weiß getünchten, reetgedeckten Ferienhäuschen und orange leuchtenden Sanddornbüschen. Auf einer Wiese grasten wuschelige Schafe. Ein brauner Hütehund döste in der Sonne, während der Schäfer in die Ferne schaute.
Schließlich ging der feste Weg in lockeren Sand über. Dazwischen wuchs trockenes Dünengras. Er stieg vom Rad und schob es mühsam durch die tief eingegrabenen Rillen. Immer wieder blieb es stecken.
Am Ende der Sandgrube, dort wo der Weg wieder fester wurde, stand eine Holzbank, geformt wie ein Piratenschiff. Erschöpft sank er darauf. Er war allein. Die meisten Touristen kamen nicht bis hierher.
Vor ihm lag eine weite, flache Wiese, dahinter das Meer, ein schmales, blaues Band. Ein weißes Segelschiff glitt vorüber. In seinem Rücken wachte ein kleiner, rot-weiß gestreifter Leuchtturm zwischen hohen, dünnen Kiefern über die Düne und die andere Seite der Ostsee.
Er saß ganz still. Der auffrischende Wind warf sich schwer in die Bäume. Sie knirschten und ächzten. Das Meer sauste und brauste unter seiner Kraft.
Er musste lange warten. Es war fast dunkel, als sie endlich zu ihm kam, sich neben ihn setzte und seine Hand in die ihre nahm.
„Du bist ganz kalt“, sagte sie vorwurfsvoll. „Du solltest deine Jacke anziehen.“
„Findest du?“, fragte er. „Mir ist gar nicht kalt.“
Sie seufzte. „Ist es nicht schön hier? Ich liebe diesen Ort.“
Schweigend saßen sie da und schauten auf die Landschaft, die nach und nach ihre Konturen verlor. Nur das rauschende Meer und der singende Wind waren zu hören.
„Ich habe dich vermisst“, sagte er.
„Ich weiß“, sie lächelte, „jetzt bin ich ja da.“
„Ja, das bist du“, erwiderte er. Sein Herz schlug schneller vor Glück.
Ein Jogger fand ihn am nächsten Morgen. Ein wenig zur Seite gesunken, den Kopf auf der Brust, saß er ganz friedlich da. Ein Lächeln umspielte seinen Mund.
Der Wind hatte ein verblasstes Hochzeitsbild von der Bank geweht und mit sich fortgetragen.