Vom Küssen und Aufwachen
Im obersten Stock ging ich den schmalen Gang entlang wie so oft zuvor. Hinter der Tür am Ende hörte ich Max Klavier spielen. Eine lässige, jazzige Nummer. So ähnlich wie die, die mich angelockt hatte, als ich ihm zum ersten Mal hier oben begegnet war. Ich schluckte. Es war nicht schwer, ihn mir vorzustellen, wie er am Klavier saß und auf mich wartete: sein Jackett über den Sessel am Fenster geworfen, die Krawatte gelockert, die Ärmel seines Hemdes aufgekrempelt, seine schlanken Finger, die mühelos über die Tasten tanzten. Wahrscheinlich hing ihm diese widerspenstige Strähne seines dichten, kastanienbraunen Haares in die Stirn. O je, ob ich das schaffen würde?
Meine Hand war an der Türklinke. Ich musste das jetzt nicht tun. Ich konnte auch einfach hineingehen, ihn anlächeln, meinen Blazer ebenfalls über den Sessel am Fenster werfen und diese halbe Stunde genießen wie all die süße, gestohlene Zeit zuvor. Bei dem bloßen Gedanke wurden meine Knie zu Wackelpudding. Vage erwog ich einen Deal mit dem Universum: vielleicht nur noch dieses eine Mal …
Ich öffnete die Tür und blieb auf der Schwelle stehen.
„Hey“, begrüßte er mich leise und betrachtete mich mit seinem selbstsicheren Lächeln. Dann schwang er sich von der Klavierbank auf und war mit drei großen Schritten bei mir. „Ich hab dich vermisst“, raunte er mir ins Ohr, zog mich mit einer Hand ins Zimmer und schob mit der anderen die Tür sanft zu.
Küss ihn jetzt bloß nicht, Nele, ermahnte ich mich verzweifelt, während er eine Hand in meinem Haar vergrub und die andere meinen Rücken hinabwanderte. Anstatt die Augen zu schließen, versuchte ich mich auf eine Fliege zu konzentrieren, die als kleiner schwarzer Fleck munter die elfenbeinfarbene Tapete entlangkrabbelte, und auf die Verkehrsgeräusche, die durch das halboffene Fenster von der Straße heraufdrangen. Als ich den vertrauten Duft seines Aftershaves einatmete, hing meine Entschlusskraft an einem Faden, der gefährlich dünner als seiden schien. Bloß nicht küssen … Da fiel mein Blick auf sein Jackett über dem Sessel. Aus der Tasche blitzte etwas hervor. Die Karten!
„Warte“, sagte ich heiser, wand mich aus seiner Umarmung und schob ihn von mir weg. Dass seine Brust unter dem weißen Hemd sich so einladend warm anfühlte, versuchte ich tapfer zu ignorieren.
„Was ist?“, wollte er wissen.
Jetzt gilt’s, Nele, Augen zu und durch.
„Was sind das für Karten?“, fragte ich unschuldig und hob kurz meine Augenbrauen Richtung Sessel. Sein Gesicht ließ ich nicht aus den Augen.
Für den Bruchteil einer Sekunde sah er genervt aus, aber er fing sich sofort wieder. „Damit wollte ich dich eigentlich überraschen, Süße.“ Die Lider auf Halbmast. Jetzt trug er richtig dick auf. „Das Storm-Konzert heute Abend. Es schadet nicht, wenn man jeden in der Branche zwischen hier und Feuerland kennt, weißt du. Das sind zwei VIP-Karten für uns. Was sagst du?“
Mein Blick ließ seinen nicht los. Wäre da ein Hauch von Betretenheit in seiner Miene gewesen, ein Anflug von Scham oder schlechtem Gewissen. Aber nein. Nur Max. Ganz sonnengeküsster, glückverwöhnter Siegertyp. Keine Spur von Sorge, dass er auffliegen könnte. Als sich seine Lippen zu einem schiefen Lächeln verzogen, wurde seine Stimme wieder tief und weich. „Du und ich, Süße!“
Und plötzlich waren meine Knie wieder meine Knie. Schluss mit Wackelpudding. Die Dreistigkeit seiner Lüge half endlich meiner Selbstachtung auf die Sprünge. Glaubte er allen Ernstes, ich würde ihm das abkaufen?
„Tja, das ist ja jetzt blöd“, begann ich, und bemerkte zufrieden, dass meine Stimme nun fest und klar war. „Deine Frau denkt, du willst mit ihr dahin gehen.“
Etwas in seinem Blick wurde hart.
„Weißt du, ich hab Vicky vorhin in der Lobby getroffen“, fuhr ich gnadenlos fort. „Sie war total aus dem Häuschen vor Freude und hat mir strahlend erzählt, dass du sie zum Hochzeitstag gerade mit diesen Wahnsinns-Tickets für das Storm-Konzert überrascht hast.“
Das schiefe Lächeln verschwand.
„Nele ...“
„Nix Nele!“
„Baby, ich …“, stammelte er, „okay, es tut mir leid, ich war nicht ganz ehrlich zu dir.“ Verzweiflung schwang in seiner Stimme mit. „Ich muss da mit Vicky hin, aber doch nur, um ihr endlich zu sagen, dass ich sie verlasse, dass ich mit dir zusammen bin und dich liebe.“ Seine Hände lagen wieder auf meinen Schultern. „Nach heute Abend sind wir frei, Baby“, sagte er eindringlich und versuchte mich an sich zu ziehen.
Aber dieser Zauber, der mich in den letzten Monaten komplett blind, taub und unzurechnungsfähig gemacht hatte, war nun vollends gebrochen, und ich lachte laut auf. „Wow – im Moment frage ich mich, warum du mich eigentlich eingestellt hast und mir die Accounts deiner Klienten anvertraust! Du musst mich doch für total bescheuert halten, wenn du denkst, dass ich so eine billige, abgedroschene Story schlucke!“
Jetzt wich er vor mir zurück.
Und ich geriet so richtig in Fahrt. Ich hatte selbst gar nicht gewusst, was da alles in mir brodelte, bis es nun mit aller Gewalt aus mir hervorbrach. „Niemand – nicht mal du – kauft so sündhaft teure Tickets, um bei der Gelegenheit die eigene Ehefrau zu verlassen!“ Mir war völlig egal, ob uns jemand hören würde oder nicht. „Mann, ich kann nicht fassen, dass ich auf das Theater reingefallen bin, das ganze Gequatsche, die älteste Lüge der Welt: auseinandergelebt, nur noch auf dem Papier, wie Geschwister …“
„Nele …“
„Und ich dumme Kuh glaub dir auch noch, dass es dir ernst ist mit uns! Während du bei deiner Frau bist, sitze ich da und warte darauf, dass du es ihr endlich sagst und wir mit dem blöden Versteckspiel aufhören können. Ich rede mir ein, dass ich NICHT völlig wahnsinnig bin, wenn ich meinen Ruf in der Firma aufs Spiel setze oder wenn ich meinen Freundinnen sage, dass sie sich sparen können, mir nette Typen vorzustellen, weil ich ja in festen Händen bin!“ Meine Stimme war inzwischen bei kurz vor schrill angekommen. „Weißt du was? Ich bin froh, dass ich endlich weiß, wie sehr du dich wirklich von Vicky trennen willst! Du musst ihr unbedingt schöne Grüße von mir ausrichten und ‚danke‘!“
„Nele, ich …“
„DU KANNST MICH MAL!“
Ich atmete schwer, wie nach einem Hundertmeterlauf. Jetzt wäre der perfekte Moment für einen dramatischen Abgang mit Türknallen und allem Pipapo gewesen. Aber als ich Max so dastehen sah – kein Hauch mehr von siegesgewissem Lächeln, von Nonchalance und Lässigkeit –, hatte ich plötzlich nicht mehr das Bedürfnis, eine Tür zu knallen.
Ich wusste, wenn ich mit einem letzten Rest an Würde aus dieser vertrackten Geschichte herauskommen wollte, dann nicht, indem ich mir selber etwas vorlog. Ich konnte ihn schlecht zum bösen, gemeinen Kerl machen, ohne mich damit selbst zum naiven, kleinen Mädchen zu degradieren. Immerhin war ich keine vierzehn mehr, sondern hatte mich sehenden Auges auf eine Affäre mit meinem verheirateten Juniorchef eingelassen. Was hatte ich denn bitte erwartet? Dass das alte Märchen vom armen, unverstandenen Ehemann, der in der jungen Kollegin endlich die Liebe seines Lebens findet, ausgerechnet für mich wahr wird? Oder, wenn schon das nicht, dass er als ruchloser Fiesling aus der Sache hervorgeht, während meine makellose Unschuld (meine was?) mich von jeder Verantwortung reinwäscht?
Nein, das hier hatten wir definitiv beide gemeinsam verbockt – er und ich. Das konnte ich mir nicht schönreden.
Noch immer standen wir uns gegenüber. Mein Atem ging wieder ruhiger. Und zum ersten Mal fühlte ich mich in seiner Gegenwart … sicher. Hellwach. Glasklar.
„Tut mir wirklich leid, Nele“, murmelte Max kleinlaut. Plötzlich kam er mir viel mehr wie ein hilfloser kleiner Junge vor, den man beim Abschreiben der Hausaufgaben erwischt hatte, als dieser atemberaubende Typ, dem ich partout nicht widerstehen konnte. Ein bisschen armselig. Keine Spur von sexy.
Ich holte tief Luft. „Ich weiß“, sagte ich ruhig, mit soviel Klasse, dass ich selbst überrascht war. „Mir auch. Mach’s gut, Max.“
Als ich mich umdrehte und ging, strichen meine Finger über die glatten, kühlen Tasten des Klaviers, und ein Hauch von Wehmut erfasste mich. Ich würde ihren Klang vermissen.