Tod in der Frühstückpension
Martin Kern hatte noch nie einen Toten gesehen. Dabei hatte er als Physiker schon viele ungewöhnliche Dinge gesehen, aber ein Toter war auch für ihn etwas Neues.
Damit hatte er in der kleinen Frühstückspension auf Amrum, wo er mit seiner Verlobten Lara das Wochenende verbrachte, auch wirklich nicht gerechnet.
Und so starrte Martin überrascht, aber fasziniert auf den Pensionsbesitzer, der in seltsam verdrehter Haltung unter ihm am Fuß der Treppe lag.
Mit weit aufgerissenen Augen starrte der Tote zurück.
„Was ist passiert?“, schien er zu fragen.
„Was ist passiert?“, fragte eine ältere Dame, die gerade aus ihrem Zimmer auf den Flur getreten war.
„Keine Ahnung“, sagte Martin, während er den Notruf wählte.
Doch auch der wenig später eintreffende Inselarzt konnte nichts mehr tun.
„Tja, tot“, sagte er. „Ist wohl die Treppe runtergefallen.“
„Rückwärts?“, fragte die ältere Dame.
„Wie bitte?“ Der Arzt blinzelte irritiert.
„Na ja, er liegt auf dem Rücken“, erklärte die ältere Dame. „Er muss rückwärts runtergefallen sein.“
„Ich lese Krimis“, ergänzte sie eilig, als sie den misstrauischen Blick des Arztes auffing.
„Aha. Ja, nun“, erwiderte der Arzt, „das soll ja vorkommen, dass Leute rückwärtsfallen.“
„Aber nicht so weit“, schaltete sich Martin ein.
„Noch ein Krimileser?“, fragte der Arzt gedehnt.
„Nein, ich bin Physiker.“
„Klasse“, murmelte der Arzt, „ein Haus voller Spezialisten. Muss mein Glückstag sein heute.“
„Der Mann kann nicht so weit von der Treppe entfernt liegen, wenn er nur rückwärtsgefallen ist“, setzte Martin erneut an.
„Tja“, sagte der Arzt, „und trotzdem ist es so, denn da liegt er ja nun mal.“
„Unter Berücksichtigung der Neigung der Treppe und der daraus resultierenden Hangabtriebskraft“, fuhr Martin unbeirrt fort, „kann er nicht bis vor die Eingangstür gefallen sein. Es sei denn, es kommt eine weitere Krafteinwirkung hinzu.“
„Zum Beispiel ein Stoß?“, fragte die ältere Dame eifrig und Martin nickte.
Der Arzt schaute zwischen Totem und Treppe hin und her.
„Also gut, bleiben Sie oben, bis die Polizei da ist“, sagte er mürrisch und suchte nach seinem Telefon. „Das war’s dann mit dem gemütlichen Sonntag.“
Martin ging, um Lara zu informieren, die zum Frühstück hatte nachkommen wollen.
„Schatz, hast du das mitbekommen? Der Pensionsbesitzer ist die Treppe runtergefallen“, sagte er, als er das Zimmer betrat. „Angeblich ein Unfall. Wir dürfen erstmal nicht runter.“
„Angeblich ein Unfall?“, wiederholte Lara vom Bett aus, wo sie fertig angezogen saß.
„Ja, die Polizei wird sich das erstmal ansehen.“
„Oh“, erwiderte Lara nur, als plötzlich eine aufgebrachte Männerstimme über den Flur donnerte: „Was soll das heißen?“
„Sie dürfen nicht durch, das heißt das“, bellte der Arzt prompt zurück.
„Sie haben mir gar nichts zu sagen“, antwortete der wütende Mann.
„Nun brüllen Sie doch nicht so rum. Da liegt ein Toter“, mischte sich die ältere Dame ein.
„Halten Sie sich gefälligst raus, ja?“
„Ich geh mal eben gucken“, sagte Martin und trat schnell wieder auf den Flur.
„Wie wäre es mit einem Tee?“, schlug er dem wütenden Herrn vor, der das mittlere Zimmer bewohnte und offenbar gerade die Pension hatte verlassen wollen. „Wir haben einen Wasserkocher dabei.“
„Ich mach schon“, rief Lara durch die geöffnete Zimmertür und lief ins Bad, um Wasser zu holen.
„Da wird wohl einer von uns der Mörder sein“, sagte die ältere Dame in die eingetretene Stille hinein.
„Wie meinen Sie das?“, fragte der wütende Herr.
„Nun ja, das ist doch die klassische Situation. Eine kleine Pension, ein kleiner Kreis Verdächtiger und ein Toter. Wie bei Hercule Poirot. Kennen Sie den?“
„Das ist wohl etwas unpassend“, schaltete sich der Arzt vom Fuß der Treppe aus ein. „Außerdem wissen wir gar nicht, ob es nicht doch bloß ein Unfall war.“
„Es war kein normaler Sturz?“, fragte der Herr vom mittleren Zimmer interessiert.
Die ältere Dame schüttelte den Kopf. „Fallwinkel“, sagte sie.
„Ah“, antwortete der Herr, als wäre damit alles klar. „Aber wer sollte den ollen Petersen denn umbringen?“
„Ach, Sie kannten ihn?“
„Ja klar, komme ja auch von der Insel. Da kennt man sich.“
„Kanntest du ihn denn auch?“, fragte Martin Lara, die gerade mit dem Tee auf den Flur trat.
Sie balancierte vorsichtig die Tasse über den Flur. „Ich bin schon mit Sechzehn hier weg. Damals gehörte die Pension noch den Jansens.“
„Ja, stimmt, den Jansens“, sagte der Herr vom mittleren Zimmer und nahm dankbar die dampfende Teetasse entgegen. „Ich erinnere mich. Aber Sie kenne ich nicht, oder?“, sagte er und schaute Lara prüfend ins Gesicht.
„Nein, ich Sie auch nicht.“
„Na, dann wäre das ja geklärt“, sagte der Arzt. „Keine Mörder unter uns, so ein Glück.“
In dem Moment flog die Eingangstür auf und das stürmische Wetter wehte einen klatschnassen jungen Mann herein.
„Vorsicht“, rief der Arzt, „betreten Sie nicht den Tatort.“
„Den, was?“, fragte der junge Mann und zog sich die Kapuze vom Kopf.
„Ich meine, die Unfallstelle“, korrigiert der Arzt schnell.
„Ach, du Schande“, rief der junge Mann, als er den toten Pensionsbesitzer sah. „Was ist passiert?“
„Er ist gestürzt“, erklärte der Arzt.
„Vielleicht“, ergänzte die ältere Dame.
„Sie sind jedenfalls nicht von der Polizei“, stellte der Arzt das Offensichtliche fest.
„Nee, ich bin Robert Beck. Ich bin hier Gast.“
„Das ist mein kleiner Bruder“, beeilte sich der Herr vom mittleren Zimmer zu erklären.
„Aha“, sagte der Arzt und beäugte den frisch eingetroffenen Pensionsgast misstrauisch. „Und wo kommen Sie so plötzlich her?“
„War spazieren, am Strand“, erwiderte dieser lapidar.
„Bei dem Wetter?“, fragten alle wie aus einem Mund.
„Ja, na und? Kann ich jetzt durch? Ich muss heiß duschen und aus den nassen Klamotten raus.“
„Das geht nicht. Niemand darf durch“, sagte der Arzt.
„Ist das ein Witz?“
„Nein.“
Gerade, als Robert Beck zu einer lautstarken Erwiderung ansetzen wollte, entdeckte er Lara oben auf dem Flur und stutzte: „Oh, Lara, bist du das?“
„Äh, ja. Hi, Robert“, sagte sie unsicher.
„Was für ein Zufall. Gerade jetzt, wo es den ollen Petersen zerlegt hat, was?“, fuhr der junge Mann fort und zeigte auf den Toten.
„Also kanntest du den Toten“, sagte Martin.
„Äh, ja, kann sein“, murmelte sie und verschwand eilig im Zimmer.
Die ältere Dame tauschte einen Blick mit Martin und zog fragend die Brauen hoch.
„Meine Verlobte war den ganzen Morgen bei mir im Zimmer, damit das mal klar ist“, setzte Martin aufbrausend an, merkte aber im selben Moment, wie sich etwas in seinem Magen zusammenzog. Er stockte.
„Ich mache mal noch Tee“, sagte er schließlich tonlos und ging ebenfalls ins Zimmer.
„Lara, was ist passiert?“, fragte er, als er die Tür hinter sich geschlossen hatte.
Lara saß wieder auf dem Bett. Sie schwieg.
„Ich habe heute Morgen die Rechnung auf der Kommode gesehen“, sagte Martin. „Wir haben gestern keine Rechnung ausstellen lassen, und sie ist auf heute datiert. Du musst heute also schon mal unten gewesen sein, als ich noch geschlafen habe“, fuhr er fort.
Sie schwieg weiterhin. „Lara?“
„Er war ein schlechter Mensch, Martin“, sagte sie schließlich leise. „Er hat uns betatscht, früher, nach der Hausaufgabenbetreuung. Und uns zu … Dingen gedrängt. Und heute Morgen, als ich die Rechnung geholt habe, hat er es wieder getan, ist mir hinterhergegangen, hat mich bedrängt.“
„Und dabei ist er aus Versehen gestürzt, ja?“, fragte Martin und spürte Panik aufsteigen.
„Nein“, sagte Lara. „Ich habe ihn gestoßen.“
Martin riss die Augen auf. „Du hast, was?“
„Ich bin ausgeflippt, Martin. Als ich ihn abgewehrt habe, hat er gesagt, dass ich mittlerweile eh zu alt für ihn bin. Und es gäbe ja genug Frischfleisch auf der Insel. Frischfleisch, Martin, so nennt er das.“
Es klopfte an der Tür und sie schraken zusammen.
„Ja?“, rief Martin genervt.
„Polizei. Würden Sie bitte öffnen?“
„Sag ja nichts, Lara, okay?“
Es klopfte wieder und Martin öffnete die Tür.
„Moin Moin“, sagte ein junger Polizeibeamter. „Ich würde gern Ihre Aussage aufnehmen. Sie haben den Toten gefunden, ja?“, fragte er Martin.
„Ich war es“, sagte Lara und Martin fuhr zu ihr herum.
„Sie haben ihn gefunden?“, fragte der Polizist.
„Nein, ich habe ihn gestoßen.“
Dem Polizisten fiel die Kinnlade herunter.
„Er hat sie betatscht“, fuhr Martin dazwischen. „Er hat Kinder betatscht.“
Der Polizist schaute zwischen beiden hin und her.
„Er war ein Schwein, verstehen Sie? Er hat es verdient“, erklärte Lara und lächelte plötzlich.
„Kommen Sie bitte mit“, sagte der Polizeibeamte betreten.
„Lara, ich…“, begann Martin.
„Lass gut sein“, fiel sie ihm ins Wort. „Es ist in Ordnung. Die Wahrheit kommt ja doch immer heraus.“ Sie nahm ihre Jacke und folgte dem Polizeibeamten.
Martin nahm ebenfalls seine Jacke. Er würde sie nicht allein lassen. Niemals.