Der Künstler
Seit geraumer Zeit sitze ich auf der Parkbank mitten im Stadtpark. Es ist ein warmer, sonniger Tag und man spürt, dass der Sommer in der Luft liegt. Die leichte Brise, die ab und an über Wangen und Nacken streicht, ist angenehm. Heute scheint ein perfekter Tag zu sein, mit dem blauen, wolkenlosen Himmel, dem fröhlichen Pfeifen der Vögel in den Bäumen und der Friedlichkeit hier.
Doch meine ganze Aufmerksamkeit ist nur auf eine Person fixiert. Drei Tage lang habe ich sie mit Abstand beobachtet, doch heute bin ich ihr ganz nahe. Sie sitzt mir direkt gegenüber, nur der breite Spazierweg liegt zwischen uns, während sie in einem Buch liest.
Sie ist einfach wunderschön, perfekt!
Ihre fast kindliche Schönheit ist auf eine schlichte Weise bezaubernd und zart, mag sie kaum Anfang zwanzig sein. Ihr langes, blondes Haar fällt in großen Wellen über die schmalen Schultern auf kleine Brüste. Blasse Haut, wo man hinsieht, etwas rosa auf hohen Wangenknochen, das ihr Leben verleiht. Das weiße Kleid, das sie trägt, ist verspielt, mit zarten Rüschen an den Ärmeln und am Ausschnitt. Ihr Mund ist weich und voll und sie lächelt fast die ganze Zeit, während sie liest. Es ist wieder dieser romantische Schmöker, mit dem umschlungenen Liebespaar auf dem Einband.
Alles an ihr fasziniert mich auf eine Art, die mich unweigerlich in ihren Bann zieht. Auf meinen Beinen liegt ein Zeichenblock, neben mir Zeichenutensilien und sie ist mein nichtsahnendes Modell. Ich kann einfach nicht den Stift zur Seite legen und zeichne Skizze um Skizze. Ihr Gesicht von vorne, im Profil, dann nur ihre grazile Halspartie samt Schlüsselbeinen, die schmalen, geraden Finger.
Wie sie dasitzt, so zierlich und anmutend, wie ein… Engel.
Es wäre ein Leichtes, ihr zartes Handgelenk zu umfassen, sie zu überwältigen kaum eine Anstrengung. Ich spüre, wie mein Herz deutlich in meinem Brustkorb pocht, vor Sehnsucht, vor Erwartung. Denn seit ich sie das erste Mal gesehen habe, weiß ich, dass sie mir gehören muss!
Wir beide scheinen in unserer eigenen Welt zu sein, obwohl hier draußen so viel los ist. Weder die Stimmen der Vorbeigehenden noch meinen Blick scheint sie auch nur ein einziges Mal zu bemerken. Doch ich nehme jede ihrer Gesten wahr. Wenn sie eine Seite umblättert, wenn sie sich das Haar hinters Ohr streicht, sich mit der Zunge über die volle Unterlippe leckt, nichts entgeht mir.
Der Drang zu Handeln brennt in mir und ich weiß, ich habe nur eine Chance. Ich lege die Zeichnungen in meine Mappe, verstaue die restlichen Sachen in der Umhängetasche und stehe auf. Es ist wie eine Improvisation in einem Bühnenstück, darin bin ich inzwischen ziemlich gut. Auch wenn mir mein Herz nun vor Aufregung bis zum Hals schlägt.
Kurz vor ihr bleibe ich stehen und tue so, als würde mir die Mappe entgleiten, sodass die vielen Skizzen herausfallen und sich zu ihren Füßen ausbreiten.
Genau wie ich erhofft habe, geht sie auch gleich mit mir in die Knie und will mir helfen, sie wieder einzusammeln.
Aus dieser Nähe kann ich nun erkennen, dass ihre Augen grün sind, so wie die edelsten Smaragde. Ein leicht blumiger Duft, der von Ihr ausgeht, steigt mir in die Nase und lässt Feuer in meinen Adern auflodern. Plötzlich hält sie inne, schaut mich überrascht an und sagt mit lieblicher Stimme:
„Das bin ja ich!“
Ich verharre, beobachte ihre Reaktion, wie sie immer mehr der Bilder von sich betrachtet. Doch sie ist nicht verärgert, nicht verunsichert, scheint eher fasziniert und streicht mit den Fingerspitzen zart über die Zeichnungen.
„Bitte entschuldigen Sie, ich wollte nicht, dass Ihnen das unangenehm ist!“, entschuldige ich mich sofort.
Ich weiß genau, wie ich auf andere wirke, in meinem Benehmen und Aussehen stecken Berechnung. Mein altmodisches Outfit, die Vierkantbrille, der brave Seitenscheitel, das graumelierte Haar, umsichtiges Verhalten. Ich will, dass Frauen Vertrauen zu mir fassen, in mir eine Vaterfigur sehen. Sie sollen denken, ich sei harmlos.
„Die sind einfach wunderschön“, reißt mich ihre Stimme aus dem Konzept. „Sind Sie Künstler?“
Mit den Zeichnungen in den Händen und der Mappe unter dem Arm, stehen wir beide wieder auf und nun wird deutlich, wie klein sie ist, sie reicht mir gerade bis zur Schulter.
Ich nicke.
„Ja, ich verdiene mein Geld damit, tatsächlich besitze ich nicht weit von hier ein Atelier“, sage ich ungelogen, greife nach meinem Zeichenblock und schlage ihn auf. „Sehen Sie, ich arbeite gerade an verschiedenen Portraits!“ Die Bilder, die ich ihr zeige, sind Fremde aus dem Park, es soll sie beruhigen, ihr glauben machen, dass sie nicht mein einziges Interesse ist.
Das Lächeln weicht nicht von ihrem Gesicht, sie scheint so unbekümmert und unbedarft. Unwillkürlich kommt mir das Bild von einer kleinen Motte in den Sinn, die vom Licht angezogen wird. Doch es ist das Feuer in mir, dass sie anlockt.
„Wäre es sehr unverschämt, wenn ich Sie frage, ob ich eines der Bilder von mir behalten darf?“, fragt sie mit erwartungsvoll großen Augen.
Nun bin ich es, der lächelt.
„Wenn Sie möchten, dürfen Sie alle behalten, die Ihnen gefallen. Bitte, ich bin so unhöflich, mein Name ist Richard Emser!“
Als ich ihr die Hand reiche, zögert sie nicht eine Sekunde.
„Ich bin Melanie Heinrich, es freut mich sehr!“
Ich lasse mir ihren Namen gedanklich auf der Zunge zergehen und muss mich zwingen, ihre kleine, weiche Hand wieder loszulassen.
Sie geht nun langsam alle Zeichnungen durch, betrachtet sie, um sich welche auszusuchen und die ganze Zeit schmunzelt sie vergnügt.
Mein Herz pocht wie im Stakkato, meine Haut prickelt und ich schwitze. Ich weiß, dass die Zeit gegen mich läuft, jeden Moment kann irgendetwas passieren, dass mein Vorhaben zunichtemacht.
„Frau Heinrich“, beginne ich sehr zurückhaltend, „es ist nicht gerade einfach jemanden zu finden, der mich so inspiriert, wie Sie es heute getan haben. Es war einfach unmöglich für mich Sie nicht zu zeichnen. Darf ich Sie vielleicht fragen, nur falls Sie noch etwas Zeit haben, ob Sie richtig Modell für mich stehen würden?“
Sie hält inne und sieht auf zu mir, auf ihren Wangen breitet sich eine verlegene Röte aus. Der Drang sie zu besitzen, wird unbeschreiblich, drückt mit einem schmerzhaften Pulsieren gegen meine Schädeldecke.
Ich spüre ihre Unsicherheit und handle schnell.
„Wenn Sie möchten, könnte ich Ihnen mein Atelier zeigen. Sie können sich in aller Ruhe anschauen, wie ich arbeite, bevor Sie sich entscheiden, noch ein paar meiner Bilder ansehen. Vielleicht bei einer Tasse Kaffee, meine Mutter würde sich über einen anderen Gesprächspartner zur Abwechslung sicher freuen!“
Sie horcht auf.
„Ihre Mutter?“
Treffer. Eine dritte arglos wirkende Person mit einzubringen, hilft oft, das Eis zu brechen. Dass meine Mutter längst tot ist, muss sie nicht wissen.
Wenn ich jetzt alles richtig gemacht habe, wenn ich fehlerfrei aufgetreten bin, sie gut eingeschätzt habe, als ein bisschen naiv und vertrauensselig, dann wird sie hoffentlich mit mir gehen.
Plötzlich zerreißt ein lautes Klingeln die Stille zwischen uns, sie holt ihr Handy aus der Handtasche und schaut auf das Display. Nun überschlägt sich mein Herz beinahe.
Ist es die Arbeit? Eine Freundin? Jemand aus der Familie, der sie zu sich ruft?
Meine Zähne knirschen und mein Kiefer schmerzt, so fest beiße ich aufeinander. Ich habe zu lange gewartet. Warum habe ich sie nicht einfach weiter beschattet, gewartet, bis sie zu ihrem Auto geht, sie im dunklen Parkhaus überwältigt? Aber genau das ist der Grund, warum ich dieses Spiel liebe, jedes verdammte Mal.
Sie scheint nur kurz den Namen des Anrufers zu lesen, da huscht ein verärgerter Ausdruck über ihr Gesicht und sie wirft das Handy zurück in die Tasche.
„Wissen Sie was? Ich habe tatsächlich Zeit und ich würde mir wirklich gerne Ihre Bilder ansehen“, sagt sie dann wieder fröhlich, als sie mich ansieht.
„Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie außerordentlich mich das freut, Frau Heinrich“, entgegne ich und muss mich beherrschen nicht triumphierend zu grinsen.
„Nennen Sie mich doch bitte Melanie!“, bietet sie mir an und ich deute die Richtung an, in die wir gehen müssen.
Während sie von ihrem letzten Besuch einer Ausstellung erzählt, sehe ich sie schon in meinem Atelier stehen. Ich biete ihr den versprochenen Kaffee an, während wir angeblich auf meine Mutter warten. Sie schmeckt das Betäubungsmittel nicht heraus. Es wird nicht lange dauern, bis ihr der Körper nicht mehr gehorcht und wenn sie begreift, wird es längst zu spät sein. Genau wie es bei den anderen Mädchen vor ihr der Fall war. In meinen Armen wird sie einschlafen und ich werde ihr dabei beruhigende Worte ins Ohr flüstern. Danach bringe ich sie in den Keller unter dem Studio, bette sie auf das Klappbett und lege die Fußfessel an. Dort wird sie sicher sein, niemand wird ihr weh tun, niemand ihr schaden oder sie finden. Dort wird sie für eine lange Zeit und nur für mich allein, dieser wunderschöne, kleine, perfekte Engel sein.