Seite NEUN
Klara hüpft die Treppe hinauf. Stufe für Stufe wippt ihre leicht ergraute Lockenpracht, die sie bis zu den Schultern trägt, lustig mit. Ihr Spiegelbild in der gläsernen Eingangstür ist der Meinung, dass ihre Figur zwar noch sportlich, aber mit den Jahren auch ein wenig rundlicher geworden sei. Schnell huscht sie hinein.
Im Empfangsbereich fällt ihr Blick auf die seit Tagen vorhandene Lücke: „Redaktion
Bunte B ätter“. „Zu Ihrer Zeit wäre das umgehend in Ordnung gebracht worden!“, spricht Klara das freundlich lächelnde Porträt des Firmengründers Sven Land wehmütig an. Dem Konterfei seiner Tochter und Nachfolgerin Blandine streckt sie im Vorbeigehen die Zunge heraus.
„Moin“, begrüßt Klara ihren Lieblingskollegen. Als Antwort erhält sie nur ein Grummeln von Henrik. „Was denn? Hat deine Borussia verloren und du weißt nicht, wie du es in deinem Sportteil beschönigen kannst?“, grinst sie und knufft ihn in die Seite.
„Schön wäre es.“ Henrik schaut Klara ernst an. „Blödine hat die gesamte Redaktion für 9 Uhr in den Sitzungsraum beordert.“
Diesen Namen hatten die beiden ihrer Chefin nach einem feucht fröhlichen Abend verpasst. Mit Blandine wehte für die beliebte Zeitung nach dem Tod des Vaters ein neumodischer Wind ins Haus. Frisch von der Uni kommend spielt die Meinung langjähriger, erfahrener Redaktionsmitarbeiter bis heute für sie keine Rolle.
„Barbaras Reiseberichte sind zu öööööde, wir brauchen mehr Action“, äfft Klara ihre Chefin nach. „Hast du Nicos Bericht aus Vanuatu gelesen? Nur durch eine Liane gesichert springt er von einem 30 Meter hohen, wackeligen Turm. Wer braucht sowas?“
Henrik stimmt ihr zu und nach einer kurzen Pause meint er erfreut: „Wenigstens verwirklicht Babsi sich nun im Reisebüro und ist glücklich.“
Die beiden schauen gleichzeitig auf ihre Uhr und seufzen. „Also dann, wagen wir uns in die Höhle der Löwin,“ dabei formt Klara ihre Hand zu einer Kralle und macht eine Greifbewegung in Henriks Richtung. Henrik lacht und spielt den angsterfüllten, fliehenden Safari-Touristen.
Die Firmenchefin beginnt mit einer kurzen und wenig persönlichen Begrüßung. Sie schaut auf das vor ihr liegende flache Display.
„Jetzt komm schon zur Sache, wir haben zu tun,“ flüstert Klara. Henrik tritt ihr liebevoll gegen das Schienbein.
„Wie Sie alle wissen, habe ich es zu meiner Aufgabe gemacht, unsere Zeitung zu modernisieren. Einige Rubriken erstrahlen bereits in neuem Glanz.“ Blandine schaut verschwörerisch zum sonnengebräunten Nico. „Beginnen wir heute mit der Rubrik „Was würden Sie tun, wenn…“.“ Dabei blickt sie wieder auf ihren Bildschirm. „Seit fast zwei Jahrzehnten beantworten Sie die kleinen und großen Anliegen der Leser. Nun schaut sie Klara direkt an.
„Ihre legendäre“, sie malt mit ihren Fingern Anführungszeichen in die Luft, „Seite NEUN gehört ab Ende dieses Monats der Vergangenheit an. Gut gemeinte Ratschläge an die alleinerziehende Mama mit aufmüpfigem Dreikäsehoch. Tipps an den Hundebesitzer, dessen Mops die Couch anknabbert. Empfehlungen für die einsame alte Dame, die sich nach einem fürsorglichen Rentner sehnt. Wer will das noch lesen?“
Blandine blickt in Richtung einer hübschen, jungen Frau. „Lena wird stattdessen mit aktuellen Modetrends übernehmen. Aber natürlich möchte ich auf eine langjährige Mitarbeiterin, liebe Klara, nicht verzichten. Die Kollegen der Werbeabteilung können kreative Unterstützung brauchen.“
Jenny, Bernd und Gudrun lächeln Klara beschämt, aber auch aufmunternd zu. Bernd reckt den Daumen in die Höhe.
Klara hat sich während der Tirade ihrer Chefin keinerlei Regung anmerken lassen. Während Letztere mit der rechten Hand wischend über den Bildschirm wedelt, um den nächsten Tagesordnungspunkt aufzurufen, steht Klara auf. Erhobenen Hauptes verlässt sie langsam den Raum. Henrik will ihr folgen, doch mit einem unnachgiebigen Blick gibt sie ihm zu verstehen, dass sie alleine sein möchte.
Im Empfangsbereich steht Sie erneut vor Sven Land. So oft schon hat sie sein Porträt betrachtet, doch noch nie hat er sie so eindringlich und aufmunternd angesehen. Seine Menschlichkeit und Wärme tun ihr gut.
Am Ende des Monats erscheint die Seite NEUN von Klara Wolf zum letzten Mal. Henrik beginnt zu lesen und mit einem diebischen Lächeln erscheinen seine lustigen Grübchen:
„Was würden Sie tun, wenn Ihre Chefin Sie und Ihr Lebenswerk nach fast zwei Jahrzehnten vor versammelter Belegschaft zum Teufel jagt?“, fragt Klara, 44.
„Liebe Leserinnen, liebe Leser. Für Ihre langjährige Treue bedanke ich mich von Herzen. Die gute Nachricht: Wir machen weiter. Hören Sie ab Donnerstag meinen wöchentlichen Podcast „Wo drückt der Schuh?“. Schreiben Sie mir! Ich kümmere mich mit gewohnter Leidenschaft um all Ihre kleinen und großen Anliegen und freue mich auf Sie! Ihre Klara Wolf.“