Vergiss mein nicht
Marga Morati betrat schwungvoll das Büro – heute ganz in blau, sogar das Nasenfahrrad farblich passend, eine Parfumwolke Chanel No. 5 hinter sich herziehend. Sie erfasste mit einem Blick die Situation und heftete ihren Habichtblick auf Rüdiger Rathke, der mit zittrigen Händen die Akten durchblätterte und hastig Notizen hinkritzelte.
„Was gibt es Neues, Rathke?“ Sie machte sich nicht die Mühe sich zu setzen, sondern stellte sich hinter seinem Schreibtisch auf, die Arme verschränkt. „Ich brauche die Kurzfassung, Rathke“, informierte sie ihn und tippelte ungeduldig in den himmelblauen Plateausandalen.
„Also, der Blumenmörder hat wieder zugeschlagen – nach diesmal nur 10 Tagen. Die Dame ist etwas jünger als die anderen…“ – er räusperte sich, „also sie ist erst 65 Jahre alt. Aber dafür nicht unbekannt.“ Er stockte, weil Morati fordernd die Hand nach den Unterlagen ausstreckte.
„Sie WAR 65 Jahre“, verbesserte sie ihn und schob ihre Brille zurecht. „Zeigen Sie mal her!“ Die blauen Fingernägel kratzten unsacht über das Papier. „Oha!“ sagte sie.
„Gloria von Tunberg! Ist das nicht diese Schauspielerin?“
„Ja, die aus der Fernsehserie damals...“ Er kratzte sich am Kopf.
„Meine Güte…“ Morati ließ abrupt die Akte sinken „…und sie hat es ÜBERLEBT…?!! Herrschaftszeiten. Warum sagen Sie das nicht gleich, Rathke!“
„Dazu bin ich noch gar nicht gekommen in meinen Ausführungen“, erwiderte er steif und griff sich an die Krawatte.
„Sie ist die einzige Überlebende bis jetzt. Das ist unglaublich.“ Morati klatschte die Akte auf den Tisch. „Worauf warten Sie denn noch? Wir müssen unbedingt mit ihr sprechen! Das ändert jetzt alles!“ Sie fegte durch die Tür und Rathke beeilte sich, ihr zu folgen.
Gloria von Tunberg wohnte in einem älteren, aber gepflegten Vorort im Blumenviertel, keine 20 Minuten entfernt.
Rathke steuerte den Wagen durch den dichten Straßenverkehr.
Es war noch nicht ganz Hanuta-Pausenzeit, trotzdem knurrte sein Magen wie ein lauernder Panther. Sämtliche Ampeln sprangen auf Rot, während er versuchte, dem Monolog seiner Beifahrerin zu folgen und ab und zu etwas Geistreiches einzuwerfen.
Hyazinthenstraße, Ecke Narzissenweg. Ihm war schwindlig. Er musste dringend etwas für seinen Blutzucker tun. Kurzentschlossen fuhr er bei einem Kiosk rechts ran.
„Wir sind noch nicht da, Rathke.“ Morati schob die Brille in die Haare und musterte ihn eindringlich. „Meine Güte. Sie brauchen einen Kaffee. Oder sowas.“
Zu mehr Empathie war diese Frau offenbar nicht fähig.
„Bin gleich wieder da“, sagte er und stieg aus. Während sein Mettbrötchen in die Vespertüte wanderte, fiel sein Blick auf die Schlagzeilen der Tageszeitung und er zog scharf den Atem ein.
Das Wohnhaus im Vergissmeinnichtweg, vor dem sie nun anhielten, war etwas in die Jahre gekommen. Am Rand der Steinplatten hatte sich Moos angesetzt. Morati schritt energisch voraus und drückte den Klingelknopf, auf den Singsang folgte ein hysterisches Gekläff. Ein athletischer Mann Anfang 40 öffnete – er war braun gebrannt, trug eine Goldkette und einen blonden Pferdeschwanz. Zwei beleibte Pudel flankierten ihn.
„Kriminalpolizei“, sagte Morati, und hielt ihm ihre Dienstmarke unter die Nase. „Können wir reinkommen?“
Der Mann stellte sich ihnen als Alf vor und führte sie zu Gloria, die ausgestreckt auf einem samtroten Chaiselongue lag und sich Luft zufächelte. „Es freut mich sehr“, sagte sie sich aufsetzend. „Obwohl der Anlass ein gänzlich haarsträubender ist.“
Moratis Habichtblick war hochkonzentriert. Sie stellte sich und ihren Kollegen kurzangebunden vor und kam gleich zur Sache - „Erzählen Sie uns, was vorgefallen ist!“
Und das tat Gloria von Tunberg. Sie ließ kein Detail aus. Rathke hing gespannt an ihren Lippen und selbst Morati unterbrach sie nicht. Tränen liefen Gloria über die Wangen. Sie schilderte ihre Angst und Panik. Den Moment, als sie sich entschieden hatte, in die Offensive zu gehen und den Täter in die Flucht zu schlagen. Alle Entschlossenheit und allen Mut hatte sie gebraucht. Und auch ein bisschen Glück. Aber der liebe Gott hatte es gut mit ihr gemeint. Sie hatte dem Angreifer das Blumenwasser ins Gesicht gekippt, den Vibrator auf voller Stufe in den Hals gerammt und ihn mit ihrem BH, Körbchengröße 90C, stranguliert. Als er röchelnd am Boden lag, habe sie ihm den letzten entscheidenden Schlag versetzt. Japanisches Minzöl in den Schritt geleert und mit der elektrischen Mückenklatsche die Schamhaare in Brand gesetzt. Daraufhin habe er die Flucht ergriffen.
Sie lehnte sich zurück. Atmete schwer in Anbetracht dieser traumatischen Erinnerung.
„Hm, ich verstehe“, sagte Morati.
Rathke sagte nichts.
„Lassen Sie sich Zeit.“ Morati stand auf, drückte der älteren Dame die Schulter.
„Wir werden uns darum kümmern. Und Alf wird nach Ihnen sehen.“
„Das tut er,“ schniefte Gloria und nickte eifrig.
„Was meinen Sie dazu, Rathke?“, fragte Morati, als sie wieder im Auto saßen.
„Hmpf“, machte Rathke.
„Das war niemals eine Körbchengröße 90C!“
„Bitte was?“ Entgeistert sah er sie an.
„Mensch, Rathke. Da ist was im Busch!“ Sie verdrehte die Augen. „Fassen wir nochmal zusammen…“ – sie schob die Brille zurecht und legte einen azurlackierten Fingernagel an die Lippen. „Also: der erste Mord in der Rosengasse – das Opfer, eine 82-jährige Witwe, wurde im Schlaf mit ihrem Insulinpen so übel zugerichtet, dass sie verblutet ist… .“ Der Finger schnellte hoch. „Nummer zwei – eine 73-Jährige erstickt im Tulpenweg an ihrer Zwiebelsuppe… mit erwiesener Fremdeinwirkung.“ Morati spitzte die Lippen. „Nummer drei – eine 78-Jährige wird Im Nelkenblick lebendig in ihrem eigenen Blumenbeet begraben.“ Morati klatschte in die Hände. „Das ist wie ein Rätsel!“
Rathke konnte dem nichts hinzufügen. Ein seltsamer Fall. Aber Morati war noch nicht fertig. Sie summte etwas vor sich hin. Die Brille wanderte auf die Stirn. Jetzt wurde es ernst. Die Gedanken flitzten in alle Richtungen. Da musste man abwarten und schweigen, wusste Rathke aus Erfahrung.
„Haben Sie den großen Strauß Vergissmeinnicht neben der Chaiselongue bemerkt? Ein wunderschöner Blauton, muss ich sagen.“ Morati sah ihn durchdringend an.
„Fast wie eine Ode.“
Rathke verstand nur Bahnhof.
„Was macht eigentlich Alf?“, wollte sie wissen.
„Wir werden es überprüfen“, sagte er schicksalsergeben.
„Ich bin ganz nah dran“, sagte sie später im Büro zu ihm und tippelte vor seinem Schreibtisch auf und ab.
„Warum hat der Täter nur ältere Damen als Opfer gewählt?
Warum leben alle im Blumenviertel?
Warum ist die Todesart … hmmmm … so melodramatisch?“
Rathke befand, dass es Zeit war, der Maestra einen Kaffee zu servieren, während sie das Flipchart mit Gedankeneingebungen versah. Roter Edding – die Fragen. Blau – die Antworten oder das, was man sicher wusste.
Und dann schrieb sie es – in himmelblauer Farbe:
„Rosen, Tulpen, Nelken.
Alle Blumen welken.
Nur die eine welket nicht,
welche heißt: Vergissmeinnicht.“
„Rathke – da haben wir es…! Sehen Sie das?“
„Das kenne ich aus meinem Poesiealbum.“
„Das dachte ich mir. Und sonst? Na?“
„Die Straßennamen“, sagte er langsam.
„Genau. Und was ist mit dem Welken?“
„Das … das bezieht sich vielleicht auf die älteren Damen …?“
„Sie welken dahin. Keiner erinnert sich mehr an sie. Außer nun durch die beachtlichen Schlagzeilen, die gerade durch die Presse gehen.“
„Verstehe“, sinnierte Rathke. „Jemand hat ihnen ein Denkmal gesetzt. Unfreiwillig, nehme ich an.“
„Jemand mit einer Vorliebe für Poesie. Und für Drama.“
„Gloria etwa …?“ Rathke sah sie erschüttert an. „Geht das so weit?“
Morati wiegte den Kopf. „Hm. Gloria ist Schauspielerin. Durch und durch. Ihr fehlt sicherlich die Bühne. Aber ob sie alleine zu diesen Taten in der Lage gewesen wäre, wage ich zu bezweifeln.“
„Wodurch wir nun doch wieder bei Alf landen …“ – Rathke klang ein kleines bisschen stolz, selbst zu diesem Schluss gelangt zu sein.
Moratis Habichtblick schärfte sich. „Er ist ein brotloser Drehbuchautor. Und liefert hier die Story seines Lebens. Beachtlich. Glorias Memoiren werden ebenfalls direkt durch die Decke gehen. Die Schlagzeilen hat sie ja schon jetzt.“
Rathke wischte die Brösel auf der Zeitung weg, die achtlos hingeworfen auf dem Tisch lag: „Erneuter Anschlag im Blumenviertel - Gloria T. alias „die Landärztin“ springt dem Tod mutig von der Schippe“.
Morati schob die Brille zurecht. „Ich denke, wir haben hier unsere Hauptverdächtigen, Rathke.“ Sie stellte klirrend die Kaffeetasse ab. „Laden Sie die beiden vor. Aber machen Sie es kurz.“ Damit fegte sie wieder aus der Tür.
Blau stand ihr ausgezeichnet, fand er.