Ein Lord und eine Lady
„Das kommt überhaupt nicht in Frage“, sagte Marie. „Ich kann doch kein Huhn mit zum Vorstellungsgespräch nehmen.“
Es war einer dieser Momente, die im Nachhinein betrachtet eine gewisse Würde besitzen, in ihrer unmittelbaren Gegenwart vor allem absurd erscheinen: Eine junge Frau stand in ihrem Wohnzimmer und argumentierte mit einem Huhn darüber, ob es angemessen wäre, es zu einem Vorstellungsgespräch mitzunehmen.
„Dann werde ich sterben“, gackerte Cassandra theatralisch und ließ sich rücklings von der Couch fallen. „Elendig verenden. Und das, nachdem ich dir den Lottogewinn vorhergesagt und deine Schwester vor dieser schrecklichen Blind Date-Katastrophe bewahrt habe.“
Marie massierte ihre Schläfen. Das Huhn hatte recht - bisher waren alle Prophezeiungen eingetroffen. Einmal bei dem bescheidenen, aber willkommenen Gewinn von 2.374 Euro in der Mittwochslotterie, dann bei der Warnung vor dem verheirateten Betrüger, der ihrer Schwester das Herz gebrochen hätte. Die Statistik sprach für das Federvieh, auch wenn jede rationale Faser in Maries Körper dagegen protestierte.
„Hat Tante Gerda dir nicht beigebracht, dass man einer Dame nicht widerspricht? Besonders wenn diese Dame gefiedert ist und die Zukunft sehen kann?“ Cassandra watschelte zu einer Handtasche. „Die wird passen.“
Marie starrte die Tasche an, dann das Huhn, dann zur Uhr. Vierzig Minuten. Sie dachte an die eingetroffenen Vorhersagen. An Tante Gerda, die ihr auf dem Sterbebett das Huhn anvertraut hatte. An die Stellenanzeige als Senior Marketing Managerin, die wie für sie geschrieben schien.
Marie öffnete seufzend ihre Tasche und das Huhn watschelte hinein, als wäre es die natürlichste Sache der Welt.
„Ich kann nicht fassen, dass ich das tue.“
„Das wird das beste Vorstellungsgespräch deines Lebens“, gackerte es gedämpft durch das Leder. „Und vergiss nicht, unterwegs Körner zu kaufen.“
Während Marie die Treppe hinunterstieg, dachte sie darüber nach, wie seltsam es war, dass die wichtigsten Momente im Leben oft so gar nicht nach wichtigen Momenten aussahen. Manchmal sahen sie aus wie ein Huhn in einer Handtasche.
Das Vorstellungsgespräch begann wie ein gewöhnlicher Albtraum. Die Tasche auf ihrem Schoß bewegte sich in unregelmäßigen Abständen, und Marie versuchte verzweifelt, diese Bewegungen als Nebenwirkungen ihrer nervösen Knie zu tarnen.
Der Personalchef, Dr. Jonas Behrendt, saß ihr gegenüber - ein Mann um die vierzig mit auffällig nachdenklichen Augen. Er stellte die üblichen Fragen nach Karrierezielen und Fünfjahresplänen, während Marie gleichzeitig antwortete und betete, dass Cassandra nicht plötzlich das Morgenlied der Hühner anstimmen würde.
„Und was würden Sie sagen, unterscheidet Sie von anderen Bewerbern?“, fragte Dr. Behrendt.
Ein lautes „Gock!“ hallte durch den Raum, gefolgt von einem unmissverständlichen Flügelschlagen. Dr. Behrendt hob eine Augenbraue. Marie schloss die Augen und wartete auf das unvermeidliche Ende ihrer Karriere.
„Ist das ...“, fragte er vorsichtig, „ein Huhn?“
„Jonas!“, ertönte plötzlich eine piepsige Stimme unter Dr. Behrendts Schreibtisch. „Ich sagte dir doch, sie würde kommen! Die mit dem Huhn!“
Marie starrte ungläubig auf das Meerschweinchen, das nun würdevoll unter dem Schreibtisch hervorspazierte, einen winzigen Seidenschal um den Hals.
„Ähh“, sagte Dr. Behrendt und errötete. „Darf ich vorstellen? Das ist Lord Wellington der Dritte, mein ... nun ja, mein beratendes Meerschweinchen.“
Cassandra steckte ihren Kopf aus der Tasche. „Ein Lord! Schau an, schau an. Hatte ich nicht versprochen, es würde interessant werden?“
Was folgte, war das vermutlich erste Vorstellungsgespräch in der Weltgeschichte, in dem eine Marketingstrategie von einem Huhn und einem Meerschweinchen kritisch diskutiert wurde. Lord Wellington erwies sich als scharfsinniger Analyst mit einer Vorliebe für digitale Transformation, während Cassandra auf die Bedeutung traditioneller Medienpräsenz bestand.
„Die Stelle“, verkündete Lord Wellington mit seiner piepsigen Stimme, „sollte an die Dame mit dem Huhn gehen. Vorausgesetzt, sie bringt Cassandra gelegentlich mit. Die Vogelperspektive könnte unseren Quartalsberichten guttun.“
Später, als Marie mit einem Arbeitsvertrag in der einen und einer gackernden Handtasche in der anderen Hand das Gebäude verließ, fragte sie: „Du hast das alles vorhergesehen, oder?“
„Weißt du“, philosophierte Cassandra, „manche Menschen suchen ihr Leben lang nach Zeichen. Dabei müssen sie einfach nur einem sprechenden Huhn zuhören.“
„Und Lord Wellington?“
„Ein äußerst distinguierter Gentleman“, seufzte Cassandra verträumt. „Und seine Prognosen für den Aktienmarkt sind ausgezeichnet.“
Marie lächelte.
„Übrigens“ gackerte Cassandra, „Dr. Behrendt - oder Jonas - macht hervorragenden Kaffee. Für eure zukünftigen Frühstücksmeetings.“
Aber das war eine andere Geschichte - eine, die ein gewisses aristokratisches Meerschweinchen schon lange vorhergesehen hatte.