Susanne Große-Venhaus aus Düsseldorf
Fernlehrgang: Schreibwerkstatt pur
Fernlehrgang: Schreibwerkstatt pur
Am Anfang von Supernova werden wir in den Kopf eines Serienmörders eingeladen. Bruno überzeugt seine Freundinnen, sobald er ihrer überdrüssig ist, mit ihm gemeinsam in den Tod zu springen. Nur springt er selbst natürlich nie. Er wartet damit auf die eine Frau, die ihm ebenbürtig ist.
Dann lernen wir Julia kennen, sein nächstes Opfer. Wir erleben, wie sie sich von ihm einwickeln lässt und beginnen uns zu fragen, wie gerade diese von Bruno emotional so abhängige Frau seine Einflüsterungen überleben soll. Zumal sie nicht einmal ihrer besten Freundin von ihrer neuen Liebe erzählt. Und das macht die Situation natürlich noch gefährlicher.
Mit Befriedigung stellt man dann am Ende fest, dass ein guter Teil von Julias Gefühlen und Gedanken von Anfang an doppeldeutig gewesen ist. Man kann sie nicht nur als Weg in den Untergang, sondern auch als Ausweg lesen. Bruno hat tatsächlich eine ebenbürtige Partnerin gefunden.
Mit Supernova gelingt Susanne Große-Venhaus eine stilsichere und durchdachte Erzählung mit einer ebenso überraschenden wie zwingenden Wendung am Schluss.
Prolog.
Sie sind gesprungen. Jede Einzelne! Ich musste nur warten, bis sie es selbst wollten. Sie jammerten und nannten es Liebe, bevor sie es taten. Wie ich sie für diese Schwäche verachte.
Manche schreien, andere sind still wie die Nacht. Ihr... Kurzgeschichte lesen
Prolog.
Sie sind gesprungen. Jede Einzelne! Ich musste nur warten, bis sie es selbst wollten. Sie jammerten und nannten es Liebe, bevor sie es taten. Wie ich sie für diese Schwäche verachte.
Manche schreien, andere sind still wie die Nacht. Ihr Entsetzen, wenn sie realisieren, dass ich nicht gesprungen bin. Kurz darauf bringt der Wind einen Hauch ihres Aufklatschens nach oben. Dann wird es leise in mir. Für diesen Moment lebe ich. Bis die Unruhe neu erwacht. Ich gebe die Hoffnung nicht auf. Eines Tages wird sie auftauchen. Die, die mir ein Gegenüber sein wird. Eine wahre Partnerin.
Julia.
„Besser du verliebst dich momentan nicht“, sagte Leona. Um endlich als Investigativ-Journalistin groß rauszukommen, hatte Julias Freundin sich in eine Story über eine Reihe eigenartiger Suizide vergraben. „Ist doch komisch, so viele Parallelen. Keine Abschiedsbriefe. Lebenslustige junge Frauen. Alles...“.
Julia checkte ihr Handy unterm Tisch. Leonas Verschwörungstheorien interessierten sie nicht. Drei Punkte bewegten sich neben Brunos Namen, nur um im Nichts zu verebben. Das Gerät schrie ihr förmlich entgegen:
Du. Hast. Null. Nachrichten.
Sie dachte an die erste Begegnung mit Bruno. Es war, als sei er vom Himmel gefallen. Leuchtend rote Locken, dieselbe Farbe wie ihre eigenen. Ein Blick, in den sie hineinfiel. Ein Gefühl, wie eine Versicherung. Ein Fundament unter ihnen, das unzerstörbar schien.
Genau deshalb hatte Julia ihrer besten Freundin nichts von ihrer neuen Liebe erzählt. Leona hätte das nicht verstanden. Außerdem sah die in ihrer Besessenheit nur Gespenster. Aber Bruno war alles andere als ein Gespenst. Er meldete sich nur manchmal nicht.
„Das ist einfach zu viel Zufall“, hörte sie Leona sagen.
Julias Handy vibrierte.
„Wo bist du?“
Julia starrte auf die Buchstaben. Was antworten?
„Hier“, war alles, was ihr einfiel.
Diesmal verebbten die drei Punkte nicht im Nirwana.
„Komm heute Abend zur Brücke“, schrieb er.
Nicht, dass sie Bruno nicht widerstehen könnte. Nur sich selbst konnte sie nicht widerstehen.
Die rostigen Brückenpfeiler strebten in den sternenklaren Himmel. Vor der Sperrung waren Züge über die Schlucht gefahren. Jetzt hatten Verfall und Moos von der Brücke Besitz ergriffen. Bald würde sie gesprengt werden. So gewaltig und doch so baufällig, wie Julias Beziehung zu Bruno. Er war es, der ihr diesen Platz gezeigt hatte.
Hier hatten sie die Nächte gefeiert, sich hoch über dem leise rauschenden Fluss geliebt. „Du bist meine Supernova“, flüsterte er, wenn sie anschließend wie hingegossen lagen. Wer hatte zuerst das Wort „Zukunft“ in den Mund genommen? Hatten die Schwierigkeiten damals begonnen?
„Du bist schon da.“ Brunos Hände schlangen sich von hinten um ihre Taille. Brunos Nase in ihrem Haar. Brunos Geruch. Hineinschmelzen in die fein orchestrierte Mischung aus Sehnsucht und Begehren.
So dürfte es immer bleiben. Doch deshalb war sie nicht hier. Sie gab sich einen Ruck, trat einen Schritt von ihm weg.
„So geht das nicht, Bruno. Zwei Wochen keine Nachricht von dir.“
„Ich habe dir unendlich viele Nachrichten geschrieben, aber“, er senkte den Blick „ich konnte sie nicht abschicken.“
„Und jetzt meinst du, ich springe, weil du die Senden-Taste gedrückt hast?“
„Nein, das meine ich nicht.“ Sein Blick war bekümmert. Wie gerne wollte sie ihm Glauben schenken.
Sie schauten hinab zum mondbeschienen schwarzen Wasser. Leuchten aus der Dunkelheit.
„Darf ich meinen Arm um dich legen?“ Er klang scheu.
Es brauchte keine Antwort. Bruno war ein Mann, mit dem sie schweigen konnte ohne das unangenehme Gefühl, das sie aus früheren Beziehungen kannte. Wenn die alles auffressende Stille kurzerhand mit hohlen Worten gestopft wurde, die schneller in der Leere verhallten, als sie ausgesprochen waren. Mit Bruno war das stets anders gewesen. Zwischen ihnen bedeutete Stille eine friedliche Koexistenz, das Schwingen der Wurzeln, die sie verbanden. Selbst in ihren schlimmsten Momenten.
Alles in ihr strebte Bruno entgegen. Als er sie an sich zog, war sie bereit. „Meine Supernova“, flüsterte er hinterher. Sie schauten in den Sternenhimmel und schwiegen lange.
„Ich habe viel nachgedacht.“ Seine Stimme war brüchig. „Wir sollten es beenden. Endgültig.“
Endgültig? Seit ihrer ersten Begegnung schwebten sie in Frischhalte-Folie durch das Auf und Ab der Liebe. Obwohl es nicht leicht war, waren sie entschlossen, für ihre Liebe zu kämpfen. Das Wort ‚endgültig‘ existierte nicht für sie. Nicht im Zusammenhang mit ‚beenden‘.
Bruno schaute ihr tief in die Augen. „Es hat einfach keinen Sinn. Das weißt du so gut wie ich. Ich verletze dich zu sehr. Ich bin zu kaputt, ich habe es einfach nicht anders gelernt.“ Die ganzen letzten Wochen hatte sie nach einer Lösung gesucht, aber jetzt, wo diese sie anblaffte in ihrer grausamen Wahrheit, schien ihr die Lüge verlockender denn je. Diese Entschiedenheit in seinen Augen, in seiner Körperspannung. Julia war nicht fähig, etwas zu erwidern.
Bruno stand auf. Ein Vorschlaghammer tobte in ihrer Brust. Bruno zog sich sein T-Shirt über. Endgültig. Julia setzte sich auf. Kroch in ihr Shirt. Endgültig. Wie eine Mauer stand das Wort vor ihr. Endgültig. Bruno hob seine Hose auf. Schlüpfte erst in das eine, dann in das andere Bein. Endgültig. Julia glättete ihren Rock. Endgültig. Sie erhob sich. Endgültig. Julia ging auf ihn zu. Das hat keinen Sinn, sagten seine Augen. Er wandte sich ab. Sie glühte und war doch seltsam unbeteiligt. Worte schossen aus ihrem Mund. Sie hörte die Worte um Liebe betteln.
‚Besser, du verliebst dich momentan nicht‘, hatte Leona gesagt.
Bruno wandte sich von Julia ab. Aber er ging nicht zum Brückenabgang. Er bewegte sich auf das Geländer zu. Legte beide Hände auf die Brüstung, drehte ihr den Kopf zu, lächelte gequält. Dann zog er sich hoch und setzte sich auf die Balustrade.
Mit einem Satz war Julia bei ihm. „Bruno! Was machst du?“
„Ich gehe in die Freiheit und gebe dir deine zurück.“ Er schwang seine Beine auf die andere Seite der Brüstung. Seine Füße hingen im Bodenlosen. Sein Lächeln passte nicht: „Jetzt, wo du mir deine Liebe geschenkt hast, bin ich bereit zu loszulassen.“
Endgültig. Etwas implodierte in Julias Kopf. Alles wirbelte durcheinander. Teile, die nicht begreifen wollten und solche, die es taten. Als sich das Entsetzen verzog, blieb Julia zurück in einer eisigen Klarheit. Endgültig. Es stimmte. Das Leiden musste ein Ende haben. Es gab einen Weg. Sie würde alles auf diese Karte setzen.
„Wenn du das tust, komme ich mit“, diesmal war es wirklich sie, die sprach.
Mit einem Schwung saß sie neben ihm auf der Brüstung. Es gab keine Fragen mehr. Nur messerscharfe Antworten.
„Das würdest du tun?“, fragte Bruno.
„Du siehst doch, dass ich es tue.“
Er schaute ihr in die Augen. Sein Blick flackerte nicht.
Ihrer auch nicht.
„Du sollst eins wissen, ich habe dich wirklich geliebt“, sagte sie.
„Du machst mich glücklich“, sagte er. „Zusammen?“
„Zusammen“, antwortete Julia.
Sie musste den Moment nutzen und besser sein, als zu ihren besten Turnier-Zeiten.
‚Alles Rothaarige‘, hatte Leona gesagt.
Sie dürfte keine Sekunde zögern.
Leona würde staunen.
Epilog.
Den Sprung nur antäuschen. Ich hatte es lange geübt, oft genug vollstreckt.
Es war das Funkeln in ihren Augen. Die Festigkeit in ihrem Blick. Ich hatte sie gefunden, die Frau, die sich mir widersetzte. Auf eine völlig andere als die erwartete Art. Die Partnerin, die es wert war, loszulassen. Meine wirkliche Supernova. „Bei drei“ hatte sie gesagt. Diesmal würde ich mitgehen. Erst als ich fiel, realisierte ich, dass sie einen Salto zurück auf die Brücke gemacht haben musste. Sie stand hinter der Balustrade und schaute mit offenem Mund. Hatte sie mich etwa stoßen wollen?
Was für ein Luder.
Änni will kein Kind. Sie weiß um die Tücken des obligatorischen und per Definition ergebnisoffenen Beratungsgesprächs vor einem Schwangerschaftsabbruch. Sie weiß von den Tücken der Hormone, die ihr aus dem Hinterhalt plötzlich suggerieren könnten, dass sie jetzt doch Mutter werden will. Sie wird in diese Fallen nicht tappen, weil sie sie durchschaut. Den Vater des potentiellen Kindes hat Änni als Affäre kategorisiert und diese schnell beendet.
Und dann passiert es eben doch. Aus irgendeiner dunklen Ecke des Unterbewusstseins schleichen sich Zweifel ein.
Als eine Menge Blut in der Toilettenschüssel kurz vor dem Eingriff einen natürlichen Abgang suggeriert, ist Änni den Tränen nahe - vor Erleichterung natürlich. Doch so ganz sicher ist man sich an dieser Stelle schon gar nicht mehr, dass Änni so tough ist wie sie tut. Und dann sieht Änni das Ultraschallbild, das beweist, dass sie keinen Abgang hatte: ‚Das Herz schlägt‘. Änni bringt es nicht über sich, aus dem Taxi zu steigen und den Abtreibungstermin wahrzunehmen.
Susanne Große-Venhaus erzählt einfühlsam und nicht moralisierend von einem harten inneren Kampf. So ergebnisoffen wie das Beratungsgespräch ist auch das Ende der Geschichte: Wir wissen nicht, was Änni tun wird. Wir hoffen aber, dass es ihr gelingt, die innere Leere zu überwinden und sich ihren unterdrückten Emotionen zu stellen.
Die Schatten der Nacht hielten Änni wach. Zwei Tage war das Gespräch nun her. Der Termin rückte endlich in greifbare Nähe. Konfliktberatung nannten sie das, als ob es je einen Konflikt gegeben hätte.
„Sie wissen, dass wir dieses Gespräch... Kurzgeschichte lesen
Die Schatten der Nacht hielten Änni wach. Zwei Tage war das Gespräch nun her. Der Termin rückte endlich in greifbare Nähe. Konfliktberatung nannten sie das, als ob es je einen Konflikt gegeben hätte.
„Sie wissen, dass wir dieses Gespräch ergebnisoffen führen?“, hatte die Beraterin zur Eröffnung gefragt.
Was man so ‚ergebnisoffen‘ nennt, dachte sich Änni, während sie höflich nickte. Man würde ihr im Gespräch Wege aufzeigen, anders zu entscheiden, als sie längst entschieden hatte. Am Ende zählte aber nur die Bescheinigung, dass sie dort gewesen war. Und dies war dann ihre Ein- oder besser gesagt die Austrittskarte aus der ganzen Affäre. Danach hatte sie noch drei Tage Bedenkzeit. Pah. Für sie gab es da nichts zu bedenken. An dem Tag, als sich dieser unsägliche zweite Strich auf dem Test gezeigt hatte, war sie einfach nur froh gewesen, dass sie sich Gewissheit verschafft hatte. Nicht auszudenken, was passiert wäre, wenn sie den ursprünglichen Gedanken, ihr Zyklus sei durch früh einsetzende Wechseljahre durcheinander geraten, weiter verfolgt und damit den Zeitpunkt verpasst hätte.
Nun war alles in die Wege geleitet.
Vor dem Eingriff hatte sie keine Angst. Sicher würde ihr Körper ein paar Tage brauchen, um sich danach zu erholen. Und wer weiß, was für Kapriolen die Hormone mit ihr spielen würden. Änni war nicht 42 Jahre alt geworden, um solche Stimmungsschwankungen nicht als das zu erkennen, was sie waren: ein Trick der Natur, um das Überleben der Menschheit zu sichern. Abgesehen davon, dass die Menschheit gerade selbst dafür sorgte, sich von diesem Planeten zu eliminieren, würde der Nachwuchs auch ohne Ännis Beitrag so schnell nicht ausgehen.
An Mark hatte sie eine Textnachricht geschickt und ihm mitgeteilt, die nette kleine Affäre sei nun vorbei. Sie wusste sehr wohl, dass das verletzend war. Das war ihr Trick, damit keiner zurückkam. Vor allem bei Typen, die etwas auf sich hielten, hatte das immer funktioniert. Die anderen disqualifizierten sich zusätzlich, indem sie bettelten. Sie war dennoch erleichtert gewesen, als Marks „Das ist wirklich schade“ ihr bestätigte, dass er zur ersten Kategorie gehörte.
Eine Änni von Hohenlohe und ein Mark Kunz? Ich bitte Sie! Komisch, dass sie sich überhaupt mit ihm eingelassen hatte. Er entsprach nicht wirklich ihrem Beuteschema von Männern, die ebenso unnahbar waren wie sie selbst. Er hatte das Kunststück fertig gebracht, sie zum Lachen zu bringen und - das musste sie zugeben - sie auch im Bett überrascht. Aber für Änni hatte und würde es nie ein „und“ geben. Sie hatte gewusst, dass sie gehen musste, nachdem sie angefangen hatte, sich grundlos wohl mit ihm zu fühlen. Und leider zu lange gezögert. Dann hatte sich das Problem eingenistet.
Das würde nun übermorgen beseitigt. Es gab wirklich keinen Grund, warum sie sich die ganze Nacht im Bett herumwälzte. Die Vögel machten einen Höllenlärm. Der beginnende Tag leuchtete in ihr Zimmer. Als sie auf die Uhr schaute, war es zu spät für weitere Einschlafversuche. Sie würde aufstehen, zur Arbeit fahren, die eloquente, fähige Änni sein, um dann am Abend an einer fiesen Blasenentzündung zu erkranken, die ihr ein paar Tage Bettruhe verordnen sollte.
Sie schaltete den Wecker aus. Ein leises Ziehen im Unterleib erinnerte sie an ihre Blase. Benommen vom Schlafmangel wankte sie zur Toilette. Gerade, als sie sich wieder erheben wollte, spürte sie wieder dieses Ziehen. Es fühlte sich an wie ein Pfropfen, der sich nur unwillig aus einem Flaschenhals löste und erst ganz zum Schluss heraus flutschte, als hätte er nie Widerstand geleistet. Eine warme sämige Masse floss aus ihr heraus. Die Kloschüssel färbte sich erst hell-, dann dunkelrot. Für eine Millisekunde setzte Ännis Herz aus, bevor sie begriff, dass das was dort geschah, ein großer Segen war. Ihr `Problem` beseitigte sich gerade selbst. Würde Änni an Gott glauben, dies wäre der Moment, wo sie wüsste, dass er ihre geheimsten Gebete erhört hatte. Sie kämpfte die Tränen zurück. Seit jener einsamen Nacht, als sie ihre bodenlose Enttäuschung in die blütenrein gestärkten Kissen geheult hatte, hatte Änni nicht mehr geweint und sie würde sicher heute nicht wieder damit anfangen. Nicht einmal aus Erleichterung.
Ein paar Stunden später steckte wieder ein Pfropfen in ihrer Vagina, diesmal war es das Ultraschallgerät der Gynäkologin. Diese schaute aufmerksam in den Monitor und sagte nichts.
„Ist es weg?“, fragte Änni.
Frau Dr. Straub schaute sie an und schüttelte mit dem Kopf.
Änni versteifte sich. „Was soll das heißen?“
„Das Herz schlägt.“
„Aber, das waren solche Mengen Blut. Ich kann mir nicht vorstellen, dass das kein Abgang gewesen sein soll.“
„Wissen Sie, in seltenen Fällen kann es trotz intakter Schwangerschaft zu solchen Blutungen kommen.“
Es folgte eine Erläuterung über die möglichen Ursachen, die Änni nur durch eine Nebelwand wahrnahm.
„Ja, aber doch nicht so stark, da waren richtige Klumpen dabei.“
„Es tut mir wirklich leid, das ist der Befund“, sagte die Ärztin. Sie griff mit der Hand an den Monitor und drehte ihn entgegen der ursprünglichen Abmachung langsam in Ännis Richtung. Unfähig, ihr Einhalt zu gebieten oder den Blick abzuwenden, starrte Änni auf das pulsierende graue Etwas in einem dunklen Kreis, auf das Frau Dr. Straub jetzt zeigte.
„Sie werden morgen doch zu Ihrem Termin gehen müssen, es sei denn…“
Änni riss sich von dem blinkenden Punkt los und blickte die Gynäkologin an. Es sei denn? Was wollte sie damit sagen? Aber was Änni im Blick der Ärztin sah, war kein Überredungsversuch, keine heimliche Erwartung, sondern eine absolut offene, nicht einmal eine fragende Haltung. Und genau das ließ Änni geradezu panisch werden. Auf einen Überredungsversuch wäre sie gefasst gewesen, aber das hier. Vor Änni breitete sich ein unendliches Vakuum aus, das sie zu verschlingen drohte, wenn sie sich nicht mit aller Kraft dagegen stemmte. Es sei denn… Nein, nein, nein. Schlagartig war Änni wieder da.
„Ich werde dort sein!“
Am folgenden Tag saß Änni im Taxi auf dem Weg in die Tagesklinik. Ein kräftiger Frühlingsregen spülte gelben Pollenschleim in den Rinnstein. Zeugnis der Verschwendung, mit der die Natur neues Leben produzierte. Überall aufgeplatzte Knospen mit schlaffen Blüten, unfertiges grünes Zeugs an den Ästen. Änni mochte die Gradlinigkeit von Sommer und Winter, nicht dieses schmerzhafte Werden und Vergehen in Frühling und Herbst. In wenigen Stunden hätte sie ihr altes Leben zurück. Eine Änni von Hohenlohe würde niemals stinkende Windeln wechseln, sie würde nie ihre schönen Brüste durch ein Baby ruinieren lassen, nie schlaflose Nächte mit einem schreienden Kind verbringen, sie würde nie…
Der Wagen hielt vor der Praxis. „Macht 33 Euro.“ Der Taxifahrer, ein ganz junger Mann, drehte den Kopf und schien zu erschrecken. „Sie weinen ja.“
Erstaunt stellte Änni fest, dass er recht hatte. Nahezu unmerklich sickerten leise Tränen aus ihr heraus, benetzten ihre Wangen, flossen in ihre Mundwinkel. Nie hatte sie den süßen salzigen Geschmack so intensiv wahrgenommen. Änni wollte zahlen und gehen, stattdessen blieb sie einfach sitzen, gestrandet auf dem Rücksitz eines Taxis.
„Kann ich noch etwas für Sie tun?“ Der junge Mann war sichtbar unbeholfen.
Änni riss sich zusammen. „Ach so, ja, also nein, warten Sie.“ Sie kramte nach ihrer Geldbörse und drückte dem Fahrer 100 Euro in die Hand.
„Stimmt so, lassen Sie mich bitte nur noch ein bisschen hier sitzen. Ich bin gleich soweit.“
Zaghafte Sonnenstrahlen fanden den Weg durch die Wolkendecke. Ein Regenbogen bildete sich über den Dächern der Stadt und die Vögel erfanden neue Lieder.
Der junge Mann nickte. „Bisschen Musik?“, fragte er Änni.
„Ja, warum nicht?“, sagte sie, in der Hoffnung, Musik könnte diese Stille in ihr auslöschen und sie wieder auf Kurs bringen. Offensichtlich hatte die Hormonausschüttung genau jetzt zugeschlagen. Sie glaubte immer noch zu wissen, was zu tun war, aber irgendwie, irgendwie, tat es auch unendlich gut, hier zu sitzen und das alles zu fühlen. Der Mann drehte den Ton auf.
„Im Sturz durch Raum und Zeit, Richtung Unendlichkeit“ sang Nena wie für Änni persönlich. „Irgendwie, irgendwo, irgendwann, ich warte nicht mehr lang.“ Änni schluchzte auf. Seit 30 Jahren lebte sie mit einer Entscheidung, die eine verzweifelte 13-jährige getroffen hatte, nachdem ihre Eltern wieder einmal durch die Welt jetteten, anstatt mit ihrem Kind Geburtstag zu feiern. „Wann fängt die Zukunft an?“ grölte Nena aus dem Radio.
Auf einmal wusste Änni, dass sie hier nicht aussteigen würde. Jedenfalls nicht heute. Bis zur 12. Woche waren noch zwei Wochen Zeit. Es gab doch noch einiges zu bedenken. Ergebnisoffen. Vielleicht zum ersten Mal in ihrem Leben. Und es gab jemanden zu informieren. Sie musste diese Entscheidung nicht alleine treffen. Schließlich war es auch sein Kind.
Sie gab dem Fahrer eine neue Adresse.
Reto Burn aus Olten
Felix Terborg aus Kaufungen
Kira Stern aus Karlsruhe
Petra P. Hasler aus Übelbach
Hedy Mae aus Bayern
Jule Cobbler aus Nürnberg
Helene Spaeth
5. Platz, Genre-Wettbewerb 2025 Runde 1.
Marina Schober
5. Platz, Schreibdebüt-Wettbewerb 2024 Runde 2.
Andreas Chariskos
1. Platz, Schreibdebüt-Wettbewerb 2024 Runde 2.
Damaris Leska-Zapf
3. Platz, Genre-Wettbewerb 2024 Runde 2.
Antje Walpert
5. Platz, Schreibdebüt-Wettbewerb 2024 Runde 1.
Kristina Sambs
2. Platz, Genre-Wettbewerb 2024 Runde 2.