Kann man das essen?
Ich hatte mir das irgendwie romantischer vorgestellt. Ein bisschen wie in diesen Naturdokus, wo Menschen in Gummistiefeln durch ein Sumpfgebiet stapfen, mit einem verletzten Vogel auf dem Arm, während im Hintergrund ein sanftes Cello spielt oder manchmal auch ein Klavier. Irgendetwas mit Gefühl eben. Und Hoffnung.
Nicht wie hier. Nicht mit dem Duft von Thermoskannenkaffee, gemischten Wurstbroten und einer knarzenden Wandtafel, auf der jemand mit erschreckender Detailfreude aufgezeichnet hat, wie man ein Reh zerwirkt. Das ist nicht das Cello-Gefühl, das ich meinte, so gar nicht.
„Wenn du könntest, würdest du ihr sofort wieder Leben einhauchen, stimmt’s?“
Tom, so nenne ich ihn einfach mal, denn mir fällt partout sein richtiger Name nicht ein, aber er fing ganz sicher mit einem T an, schaut mich mit seinen sanften braunen Augen an. Er ist seit ein paar Tagen mein Sitznachbar und zählt zu der gemütlichen Sorte Mensch. Freundlich, ruhig, mit einer irrationalen Leidenschaft für Jagdmesser.
Meine Hand streicht immer noch über die Federn einer präparierten, augenscheinlich toten Ente. Sie dient zu Übungszwecken und verdammt nochmal JA!, lebend wäre sie mir bedeutend lieber – wie alle Exponate, die hier im Schulungsraum stehen.
Vor ein paar Wochen, nach einem Besuch in einer Wildvogelauffangstation, kam mir die blendende Idee, einen Teil meiner Freizeit sinnvoll nutzen zu wollen. Verletzten Vögeln dabei zu helfen, wieder ausgewildert zu werden, schien mir ein guter Weg. Die Leiterin der Vogelstation war freundlich, aber auch resolut. Sie verwies mich an eine Jagdschule. In Deutschland, so lernte ich, darf man erst Vögel pflegen, wenn man vorher gelernt hat, sie zu töten. Jagdschein vor Falknerschein. Bestechende Logik.
Nun sitze ich hier seit über einer Woche mit Menschen zusammen, denen ich, ginge es nach mir, niemals eine Waffe anvertrauen würde. Zu bereitwillig, Leben zu nehmen. Zu unbedacht. In Kauf nehmend, das Tier zu verletzen, anstatt zu töten. Und manche haben, für meinen Geschmack, auch einfach viel zu viel Spaß daran.
„Wir gehen jetzt nochmal alle Jagdhunde durch.“
Sabine, unsere Seminarleiterin, wedelt mit einem Laserstift über eine Wildbestimmungstafel, als wäre sie Dirigentin eines Orchesters aus Tierleichen.
„Denkt dran, die Jägersprache in der Prüfung zu benutzen. Also, der Hund, der einem angeschossenen Tier hinterhergeht, ist kein Bluthund, sondern ein Schweißhund.“
Jupp, ich finde auch, das klingt viel netter.
Hinter mir meldet sich Irene. „Ich hätte nochmal eine Frage zu dem Kapitel mit den Fallen. Also, nehmen wir mal an, ich hätte einen Biber gefangen. Kann man den auch essen?“
Ich sacke sichtlich auf meinem unbequemen Holzstuhl zusammen und stoße missbilligend die Luft aus.
Angriffslustig schaut mir Irene in die Augen. „Man wird doch mal fragen dürfen?“
Ich lächle. „Natürlich darfst du fragen.“
Nachdem Irene, übrigens die einzig andere weibliche Person in diesem Kurs, gestern schon gefragt hatte, ob denn jemand wisse, wie eigentlich Waschbär schmecken würde, beschleicht mich langsam das Gefühl, dass die Dame tiefer sitzende Probleme hat.
Sabine, lässt sich indes nichts anmerken. „Biber stehen unter Naturschutz, Irene. Das solltest du bereits wissen. Wir machen eine fünfminütige Pause. Wer rauchen will, bitte vor die Tür.“
Ich schnappe mir meine Schachtel, dränge mich durch die Stuhlreihe hinaus und atme erst einmal tief durch. Es macht mir nichts aus, hier der Außenseiter, der Exot, zu sein. Anfangs hatte ich wirklich geglaubt, die Jagd sei vielleicht eine bessere Alternative zur Massentierhaltung. Ehrlicher, natürlicher. Aber nach einer Woche Jagdschulrealität und befremdlichen Gesprächen über „unglaublich tolle Waffen“ plus der fast liebevollen Beschreibung von Zerwirktechniken, stellte ich fest, dass es einen Grund zu haben scheint, dass an diesem Ort bestimmte, auf Empathie fußende Berufsgruppen praktisch nicht existieren. Vielleicht ist das von mir auch zu kurz gedacht, aber hier und jetzt fühle ich mich, als ob ich ein komplett anderes Lebewesen bin; eines mit sehr großem Abstand zur Gruppe.
Die Tür öffnet sich und Tom (oder Tim) ruft mich rein. Verzweifelt ziehe ich nochmal an meiner Zigarette, um ein wenig Zeit zu schinden und wieder mehr Ich zu fühlen. Hinter mir taucht die Abendsonne den kahlen Innenhof bereits in Dämmerlicht, während ich langsam die schmale Treppe zum Schulungsraum hinaufsteige.
Die Stimmung im Raum ist – anders. Irgendwas liegt in der Luft. Neben abgestandenem Kaffee jetzt auch etwas Unausweichliches. Sabine steht lässig vor einem Tisch, auf dem mehrere Messer ausgebreitet liegen. Das kann nichts Gutes bedeuten.
„Heute machen wir noch etwas Praktisches“, sagt sie mit der Stimmlage einer Flugbegleiterin kurz vor fiesen Turbulenzen.
Irene hebt grinsend einen Jutesack auf den Tisch. Der Sack ist feucht. Ich weiß sofort, was drin ist, noch bevor sie ihn öffnet.
„Der Unfallhirsch von letzter Woche. Den Kopf hab ich retten können. Sabine meinte, das wär ’ne gute Übung für eine Altersbestimmung. Wegen der Zähne.“
Natürlich hat Sabine das gesagt. Ich starre auf den Sack. Er ist groß, sieht schwer aus und für meinen Geschmack viel zu echt. Mit einem eleganten Schwung, den ich ihr nicht zugetraut hätte, zieht Irene den Inhalt heraus. Ein abgetrennter Hirschkopf, Geweih mit vier Enden, das Maul leicht geöffnet. Und dieser widerliche Geruch. Metallisch, erdig. Etwas zwischen Wild und Verwesung. Ich atme durch den Mund. Tom lehnt sich nach vorne, mustert die Zähne wie ein Zahnarzt in Ausbildung.
„Die ersten Backenzähne zeigen starken Abrieb. Zwei Jahre mindestens. Vielleicht drei.“
Sabine nickt. „Und was sagt das Geweih?“
Tom überlegt. „Vier-Ender. Könnte ein junger Sechser gewesen sein, dem noch ein Schub gefehlt hat.“
Ich kann nicht glauben, dass wir ernsthaft über Zahnentwicklung eines toten Tieres sprechen. Und gleichzeitig ist es genau das, was ich mir eingebrockt habe.
„Kann ich die Ohren haben?“, fragt Irene plötzlich.
„Mein Hund liebt’s, wenn er was Echtes zum Kauen hat.“
Einige lachen. Ich nicht.
Tom bemerkt meinen Blick. „War ein Wildunfall. Lässt sich nicht vermeiden“, sagt er ruhig.
Ich nicke. Und sage nichts. Weil ich weiß: Es stimmt.
Zwei Stunden und eine Zigarette später hat sich meine Situation um keinen Deut verbessert. Vor mir auf dem Tisch liegt nun kein totes Tier mehr, sondern eine Flinte. Seit dem ersten Besuch auf dem Schießstand lehne ich Waffen ab. Ich finde keinen Bezug zu ihnen. Auch Sabine mit ihrer Engelsgeduld stößt bei mir an ihre Grenzen.
„Anja, kommst du mit deiner Waffe nach vorne, bitte?“
Widerwillig greife ich mir das kalte Eisen und stelle mich neben sie.
„In der Prüfung wird die Handhabung von Waffen bewertet. Also folgende Situation: du willst einen Fuchs schießen, der ein wenig zu weit für einen guten Schuss entfernt ist. Du wartest geduldig, bis er näherkommt. Da läuft dir direkt ein Hase vor die Flinte. Was tust du?“
Wie aus der Pistole geschossen antworte ich: „Ich lass ihn laufen.“
Stille!
Irenes Impulskontrolle macht als erste schlapp und sie prustet los. Alle anderen kämpfen ebenso mit ihrer Beherrschung. Bis auf Sabine. Sie schaut mich mit einer Mischung aus Verzweiflung und Ungläubigkeit an.
In diesem Moment weiß ich, dass mein Ausflug in die Jagdwelt ein jähes Ende gefunden hat. Sabines blaue Augen starren mich immer noch an.
Ich neige leicht den Kopf zur Seite. Ein Lächeln auf meinem Gesicht verrät ihr: Entschuldige, ich kann nicht anders. Ich bin so und ich werde mich auch nicht ändern. Es macht nichts. Mein Weg ist hier zu Ende. Ich reiche ihr meine Hand.
„Danke! Danke für alles“, flüstere ich ihr zu.
Ein paar Minuten später stehe ich allein im Hof und genieße die Abendstimmung. Von der Straße gegenüber klingt der Autolärm wie ein altbekanntes Lied – Großstadt halt. Möglicherweise werden mich morgen meine Freunde fragen, ob ich denn wenigstens irgendetwas aus dem Lehrgang mitnehmen konnte. Dann werde ich wohl lächeln und sagen, dass man manchmal am meisten lernt, wenn man sich auf etwas einlässt, das eigentlich nicht zu einem passt.
Mein Blick schweift nach oben zu den großen Fenstern des Seminarraums. Wie an einer Perlenschnur aufgereiht stehen dort viele der ausgestopften Exponate. Meine Ente ist auch dabei, und ich habe das Gefühl, dass sie mir zulächelt. Vielleicht doch lieber was mit Kindern? Kinder sind gut. Und so lebendig.