Die Sonnenblume
In der Dunkelheit hatte Girasol in den hell erleuchteten Fenstern von draußen alles erkennen können. Und es schien sie aus dem Innern des Hauses auch niemand bemerkt zu haben, denn ihr vor Durst herabhängendes Köpfchen ging im Dunkel des Gartens unter. Das Kreppband mit ihrem Namen, den ihr die kleine Lotte, nach ihrer zweiten Spanischstunde verpasst hatte, löste sich bereits vom Blumentopf, so kalt war es draußen geworden.
Die abgehastete Frau Sarvek war in letzter Zeit viel zu sehr damit beschäftigt gewesen, das Haus ihrer kleinen Familie auf den Kopf zu stellen. Gestern Nacht hatte sie endlich gefunden, wonach sie gesucht hatte. Girasol hatte den Tobsuchtsanfall von Frau Sarvek aus der Dunkelheit heraus beobachtet. Ausgerechnet gestern Abend waren die Kinder wegen einer Übernachtungsparty nicht da gewesen. Sicherlich wäre sonst alles anders ausgegangen.
Erst hatte Frau Sarvek eine Flasche Rotwein geöffnet. Dann musste sie irgendwann Musik angemacht haben, denn nach dem fünften Glas Wein – Herr Sarvek schien sich zu verspäten – war sie aufgestanden, hatte an der Musikanlage gedreht und zu tanzen begonnen. Die Vibration des Basses war wummernd bis in die Stille des Gartens vorgedrungen. Aus der Ferne hatte Girasol die arme Frau weinen sehen. Nach einer Weile war Girasols Blick zur Haustür gefahren, wo der Bewegungsmelder für Herrn Sarvek den Eingang beleuchtet hatte. Girasols Blätter hatten sich zusammengekräuselt in der Vorahnung, dass dies kein harmonischer Abend werden würde.
Als Herr Sarvek in das Wohnzimmer getreten war, hatte sich sein Mund dann aber zu einem Ausdruck geöffnet, den Girasol als Lachen interpretiert hatte. Frau Sarvek schien das aus ihrer Trance gerissen zu haben und sie hatte ihren Tanz abrupt beendet. Dann war sie auf ihren Ehemann zu getorkelt und ihm um den Hals gefallen. Herr Sarvek hatte keine Zärtlichkeit erwidert. Er schien sogar eher angewidert gewesen zu sein und hatte Frau Sarvek fortgeschoben. Während er sich seiner Krawatte entledigte, hatte sie sich von dem Wein nachgegossen. Mit großen Schlucken schien sie sich von der Abfuhr ihres Mannes erholen zu wollen. Ohne auf seine Frau näher einzugehen, war Herr Sarvek im Schlafzimmer verschwunden. Hier hatte Girasol ihn nicht sehen können, die Vorhänge waren zugezogen gewesen. Vermutlich ein kurzer Moment der Ruhe hatte Girasol gedacht. Doch zu ihrer Überraschung hatte Frau Sarvek ein weiteres Glas Wein runtergekippt und war ihrem Mann mit einem Foto in der Hand ins Schlafzimmer gefolgt.
Eine Ewigkeit war vergangen, in der Girasol nichts hinter den schwarzen Vorhängen des Schlafzimmers hatte erkennen können. Hatte Frau Sarvek ihren Mann vielleicht doch noch von ihrer Liebe überzeugen können? Doch dann waren die beiden ineinander verschlungen wieder in ihr Blickfeld gestolpert.
Sofort war Girasol klar geworden, dass es keine Liebenden waren, die sie da sah. Herr Sarvek hatte die Hände um den Hals seiner Frau gelegt und Frau Sarvek schien nach Luft zu ringen. Hätte der Schöpfer Girasol eine Stimme geschenkt, so hätte sie geschrien, doch sie klemmte eingepflanzt in einem Blumentopf und konnte weder Laut geben noch Frau Sarvek zu Hilfe eilen. Sie war gezwungen gewesen, das Verbrechen still zu beobachten. Wobei der Bass immer noch wummernd aus den Fenstern gedrungen war. Mit einem Tritt zwischen die Beine ihres Ehemanns hatte sich Frau Sarvek noch selbst befreit und war auf die Eingangstür zugelaufen. Doch Harr Sarvek griff nach einer Whiskeyflasche aus der Bar und warf sie nach ihr.
Die nächsten Tage waren die Jalousien aller Fenster geschlossen geblieben und es war auch keine Musik nach draußen gedrungen. Die Kinder waren erst gestern wieder in das Haus zurückgekehrt – mit erstarrten traurigen Gesichtern. Girasol hatte einen neuen Blumentopf bekommen. Herr Sarvek war noch am selben Abend des Streits in den Garten gestapft, hatte Girasol grob aus ihrer Erde gerissen und in einen neuen Topf gepflanzt. Scherben hatte er als Drainage am Boden des Tontopfs platziert. Sie hatte nun Platz und war nicht mehr durstig.
Als jetzt jedoch die drei Männer in schwarzer Weste und blauem Hemd durch das Haus und den Garten streiften, wackelten Girasols Blätter. Herr Sarvek gab sich betont gelassen. Girasol bemerkte sogar, wie er die Jalousien hochfuhr, „um mal wieder Licht in das trostlose Haus zu lassen“, so sagte er.
Girasol, die Sonnenblume auf dem Terrassentisch, schienen die drei Männer jedoch nicht zu bemerken. Sie konnte nicht anders, als sich schlecht zu fühlen in ihrem neuen Topf. Das war nicht richtig. Sie verlagerte ihr Gewicht.
Die drei Polizisten schreckten auf, als der Blumentopf mit der Sonnenblume draußen vom Tisch auf der Terrasse aufschlug. Das, was da zum Vorschein kam, machte ihnen klar: Linda Sarveks Tod war kein Unfall gewesen.