Bilder aus Perleberg
„Einen schönen Tag noch.“
Ich schließe die Tür, ohne den freundlichen Gruß des Postboten zu erwidern, ohne den Blick von dem Päckchen in meinen Händen zu nehmen. Ich gehe in die Küche und lasse es auf den Tisch fallen. Meine Finger sind heiß, als hätte ich mich an der Pappe verbrannt. Kein Name des Absenders. Den braucht es auch nicht, denn der Ort steht da, Kugelschreiberblau auf weiß, Schreibschrift, kleine Kringel an den Enden der Buchstaben. Perleberg. Mutter. Ich verlasse die Küche.
Jeden Tag bin ich dankbar, dass mein Atelier in meiner Wohnung ist. Aus dem Bett in die Kreativität. Vom Frühstückstisch in die Farbpallette. Keine Idee geht auf dem Weg zur U-Bahn oder zum Bus verloren. Kein Flow wird vom Lärm Berlins unterbrochen. Dafür verzichte ich auf ein Wohnzimmer und das ist es allemal wert. Nur heute wäre mir ein längerer Weg, ganz egal wohin, nur möglichst weit weg, lieber als die 14 Schritte von der Küche rüber zum Atelier.
Ich öffne die Tür, trete ein, atme ein. Der vertraute Geruch der Ölfarbe, die leicht herbe Note in der Luft, gibt mir Halt. Meine Umgebung entfaltet die übli-che Magie, treibt mich zwischen Leinwänden, Pinselgläsern, Farbregalen und von Zeichnungen übersäten Tischen hinüber zur Staffelei an der weißen Wand gegenüber. Ich möchte raus aus meinem Kopf und zurück zur Konzentration. Zurück zur Arbeit.
Herr Grunhoff wartet auf sein Bild. Ich hatte mir vorgenommen, heute die Schattierungen der Bergkette zu verfeinern. Doch ich kann es nicht. In mir ist kein idyllisches Landschaftspanorama der Alpen im Spätherbst. Trotzdem beginne ich zu malen. Mechanisch und irgendwie ferngesteuert. Ich male und male. Pinselstrich für Pinselstrich. Stunde um Stunde. Zumindest meine ich, dass es Stunden sein müssen, denn allmählich verschwindet das Sonnenlicht aus dem Raum und mein Handgelenk schmerzt. Meine Schultern krampfen und ich muss mich zwischendurch immer wieder hinsetzen, weil meine Beine vom Stehen kribbeln.
Vor mir entsteht ein Mädchen, allein in einem dunklen Zimmer. Ihr Gesicht kann ich nicht erkennen. Sie hält eine graue Plüschkatze in der Hand. Sie ist umgeben von leeren grünlichen Flaschen. Überall liegen Korken auf dem Boden. Die Flaschen türmen sich so hoch auf, dass sie die Tür versperren, den Weg hinaus. Die einzige Lichtquelle ist ein kleines Dachfenster, doch die Sterne und der Mond können nicht hindurchscheinen. Sie sind verdeckt von verzerrten Schatten mit muskelbepackten tätowierten Armen, groben Händen mit blutigen Knöcheln und überall Grau und Schwarz und Dunkelheit. Ich lasse den Pinsel sinken. Die Leinwand verschwimmt vor meinen Augen und ich schmecke Salz auf meinen Lippen.
Blinzelnd sehe ich an mir herab. Ich habe meinen Malkittel vergessen. Mein Pullover und meine Hose sind von dunklen Farbspritzern übersäht. Ich schaue zurück zu dem kleinen Mädchen und ihrem Stofftier. Ich reibe mir über die Unterarme, fahre über die verblassten Narben, die hell auf meiner Haut schimmern. Gerade Linien, wie Gitterstäbe.
Ein vertrautes Streichen um meine Beine lässt mich zusammenzucken. Matisse sieht mich aus seinen stechend grünen Augen an. Ich möchte mir einreden, dass er gekommen ist, weil er gespürt hat, dass ich nicht allein sein möchte, aber er hat einfach bloß Hunger. Ich nehme ihn hoch und vergrabe für einen Moment mein Gesicht in seinem Fell, atme seinen Duft nach Sonne und Schlaf. Matisse maunzt, zappelt, wehrt sich, es ist ihm zu viel. Mir irgendwie auch. Ich lasse ihn runter. Er geht voran. Ich folge ihm, sehe nur seinen braun-getigerten Rücken an als wir die Küche betreten. Ich gebe ihm sein Futter und weiß, dass ich mir nichts kochen werde. Mein Magen ist verknotet und schwer. Das Paket ist nicht verschwunden. Es liegt noch immer an genau der Stelle, an der ich es vorhin abgelegt hatte. Das Gewicht meiner Gedanken drückt mich auf den Stuhl.
Ich zittere, als ich das Paket zu mir ziehe. Ich zittere, als ich die Schrift auf dem Paketaufkleber nachfahre. Meine Fingerspitzen berühren meinen Namen, den sie geschrieben hat. Meine Adresse, die sie herausgefunden hat. Schere auf Pappe. Es kommt mir ohrenbetäubend laut vor. Ich zittere noch immer, als ich das Paket langsam öffne.
Vincent van Gogh. Weich und grau wie damals. Ich ziehe meine Plüschkatze heraus und kann nicht anders, als ihn an mich zu drücken. Er riecht nach Waschmittel und Weichspüler. Nach ihr und dem Haus in Perleberg.
Ein Zettel fällt nach Vincent heraus. Er ist gelblich, wie ein Post-It, nur ohne Klebestreifen. Alle vier Ecken sind nach innen gefaltet worden, sodass sich die Form eines Briefumschlags ergibt. Auf diese Art habe ich ihr meine ersten Bilder geschenkt. Nach dem Kindergarten, nach der Schule, nach einer weite-ren schlaflosen Nacht in meinem Kleiderschrank.
Ecke für Ecke entfalte ich das Papier. Sieben Worte in ihrer Handschrift:
Valerie, es tut mir alles so leid.
Das, was zählt, in einem Satz. Sie war nie eine Frau vieler Worte gewesen. Aber eines muss man ihr lassen: sie ist treffsicher. Unten in der rechten Ecke steht eine Handynummer und ich weiß, dass es ihre ist. Es ist ein Angebot, auch das weiß ich.
Ich blicke hinunter zu Matisse, der inzwischen aufgegessen hat und nun stoisch vor seinem Napf sitzt. Es ist, als würde er sicher gehen wollen, dass wirklich nichts mehr kommt, bevor er endgültig geht. Ich kenne das, denn ich mache es seit Jahren. Warten und bleiben. Malen und warten und bleiben. Und nun ist doch noch etwas gekommen.
Wieder fehlt mir jegliches Zeitgefühl und ich weiß nicht, wie lange ich so dasitze. Ich habe aufgehört zu zittern. Der Knoten in meinem Bauch hat begonnen sich zu entwirren. Da ist kein Salz mehr auf meinen Lippen.
Ich angle mein Handy aus meiner Hosentasche, Matisse neben mir, Vincent van Gogh vor mir, und wähle die Nummer. Es klingelt dreimal. Ihre Stimme bringt mich zurück nach Perleberg.
„Mama, ich bin es.“