Der Kirschlolli
Es heißt, irgendwann in unserem Leben gibt es diesen einen Moment, diese eine Erfahrung und wir fangen an, das eigene Verhalten unter die Lupe zu nehmen. Wir schämen uns vielleicht sogar für das, was wir getan oder nicht getan haben. Danach ist nichts, wie es war, besser gesagt, wir sind nicht mehr, wie wir waren. Und im besten Falle fängt etwas Neues an.
So war es zumindest für mich irgendwann in den Siebzigern. Ich mochte fünf oder sechs Jahre alt gewesen sein, trug grün-karierte Schlaghosen und nahm einmal die Woche mit dem Kassettenrekorder - in gebetsähnlicher Haltung vor dem Fernseher hockend - die Hitparade mit Dieter Thomas Heck auf. Zur großen Belustigung meiner Eltern lernte ich den Rest der Woche die neuesten Schlager auswendig und sang sie in fast jeder Lebenslage. Wenn es meiner Mutter zu bunt wurde, schickte sie mich raus zum Spielen.
In unserer Nachbarschaft wohnten eine Menge Kinder. Plus minus ein paar Jahre waren wir alle im gleichen Alter und wer da war, wurde bespielt. Nur mit einem Jungen wollte niemand spielen und das war der dicke Heinrich. Eigentlich war er gar nicht so dick, eher kräftig und irgendwie zu viel Junge in viel zu knapp sitzenden T-Shirts und Hosen. Und bis zu jenem Tag hatte ich mir nie Gedanken über ihn gemacht. Man spielte halt nicht mit ihm, auch wenn ich gar nicht so genau wusste, warum.
Aber nachdem ich an diesem Samstagvormittag meine Eltern schon ausdauernd mit Costa Cordalis beschallt hatte und „Hossa“ mein neues Lieblingswort geworden war, rief mein Vater - wie ich damals dachte, in gespielter Verzweiflung, - „Schick das Kind doch mal vor die Tür!“ So bekam ich an einem sonnenlosen Samstagmittag draußen verordnet. Ich fand mich ungewöhnlich allein vor dem Haus wieder. Lustlos vergrub ich die Hände zunächst in den Schlagcordhosen und drückte mich an der Hauswand in Richtung Vorgarten. Dann hatte ich plötzlich eine Idee: Ich würde ein Loch graben, um später einen Schatz – was das sein sollte, wollte ich mir noch überlegen – zu vergraben. Mir fehlte zwar das passende Werkzeug, aber davon würde ich mich nicht aufhalten lassen. Ich krallte meine Hände in die lockere Erde und schaufelte los. Der Boden war krümelig, dann matschig, schließlich fest. Zwischendurch hielt ich mir die Erde unter die Nase. Sie duftete fast so gut wie „Hossa“ rufen. Ich werkelte schon eine ganze Weile vor mich hin, da fragte eine Stimme hinter mir „Kann ich mitmachen?“ Prima, war ich doch nicht allein. Ich linste unter meinem Ellenbogen hindurch und erstarrte. Da stand doch wirklich der dicke Heinrich. Schnell fixierte ich wieder mein Loch. Was sollte ich jetzt tun? Gegen das ungeschriebene Gesetz verstoßen und ihn mitspielen lassen. Was, wenn uns andere Kinder dabei sehen würden? Vielleicht war unbeliebt sein ansteckend wie ein juckender Ausschlag. Schon fühlte ich rote Pusteln meinen Arm hinauf wandern. Warum musste mir das überhaupt passieren? Geh doch wieder weg, betete ich. Sei weg, sei weg – dabei krallte ich meine Finger ins Erdreich und buddelte wie ein manisches Eichhörnchen - nichts sehen, nichts hören, nicht noch einmal nach hinten schauen. In meinem Nacken atmete Heinrich. Zunächst kaum hörbar, dann sog er die Luft immer schneller und tiefer in seine Lunge. Schließlich atmete er aus. Danach nichts mehr. Irgendwann trottete er davon. Wieder linste ich unter meinem Ellenbogen hindurch. Heinrich sank bei jedem Schritt tief ein, als würde sein ganzer Körper nach innen kriechen. Ich hatte noch nie einen so traurigen Rücken gesehen.
Am Abend schwoll mein rechter Zeigefinger an. Der Schmerz puckerte unerbittlich und ein zarter roter Strich kroch in Richtung Handgelenk. Noch in der Nacht fuhren wir ins Krankenhaus. Ein Arzt trennte mir einen Teil des Fingernagels ab, um die Erde darunter zu entfernen, und ich bekam eine Spritze. Während der Prozedur war ich still und weinte keine einzige Träne. „Was für ein tapferes, kleines Mädchen“, sagte der Arzt zu meiner Mutter, griff in ein Schraubglas und drückte mir einen Kirschlolli in die Hand. Doch ich fand mich überhaupt nicht tapfer, denn ich musste die ganze Zeit an Heinrich denken und dass ich vielleicht seine letzte Hoffnung gewesen war. Auf dem Heimweg steckte ich den Lolli in meine Hosentasche. Dort drückte der Stil unangenehm, doch ich blieb ganz ruhig – rührte mich nicht.
Am nächsten Morgen stand ich früh auf, zog die Lollihose wieder an und verließ die Wohnung. Heinrich lebte mit seiner Familie drei Häuser weiter im Erdgeschoss. Alle Rollläden waren heruntergelassen. Alles still. Heinrichs Kinderzimmer hatte ein Fenster zur Straße. Ich stellte mich auf die Zehenspitzen und legte den Kirschlolli auf die Fensterbank. Danach stand ich ganz still. Ich wusste nicht genau, ob ich Heinrich wirklich sehen wollte oder ob ich nur auf sein freudig überraschtes Gesicht hoffte, wenn er mein Geschenk fand. Wir hätten danach den Lolli gemeinschaftlich als unseren Schatz vergraben können ... und vielleicht musste ja nur mal eine damit anfangen, mit ihm zu spielen. Irgendwann wäre es normal und nicht mehr der Rede wert. Ratsch. Ein Rollladen wurde schwungvoll hochgezogen. Ich zuckte zusammen und lief davon.
Ein paar Wochen später verließen wir die Siedlung und zogen in eine andere Stadt. Dort war ich die Neue und keiner wollte mit mir spielen. Ich brauchte über ein Jahr, um dazu zu gehören. In dieser Zeit habe ich oft an Heinrich gedacht.
Bis heute habe ich ihn nicht vergessen. Wiedergesehen habe ich ihn nicht und weiß auch nicht, ob er meinen Lolli je gefunden hat und das, was er bedeuten sollte. Manchmal abends, kurz vor dem Einschlafen, da wo auf einmal alles möglich ist, auf der Schwelle zum Traum, sehe ich ihn: Heinrich geht aufrecht einen Waldweg entlang. Er lacht fröhlich, singt sogar und ein mutiges Mädchen hält seine Hand.