Das Gartenidyll
Mit geschlossenen Augen lehnte ich mich an der alten Holzbank zurück, die an der Südseite des Hauses stand, und genoss die Ruhe. Nur das Rascheln der Blätter war zu hören, die in der warmen Brise tanzten. Der leichte Wind trug den Duft der blühenden Rosen herüber, den ich gierig einsog. Lange hatte es gedauert, bis der Strauch erste Blüten getragen hat, und jetzt ist es mein alljährliches Vergnügen, ihn in voller Pracht bewundern zu können, bevor er die farbenfrohen Blätter vorm Einsetzen der Julihitze abwirft. Noch hatte der Sommer nicht begonnen, doch schon jetzt war es ungewöhnlich heiß.
Ich ließ meinen Blick über das frische Grün des Gartens wandern, über den Obstanger, den ich am Südhang angelegt hatte und über die hohen Bäume des Waldes, der sich von allen Seiten an mein kleines Paradies anschmiegte, als wollte er es beschützen. Mit der Hand beschattete ich die Augen, um besser sehen zu können. Es mochte an der drückenden Hitze liegen, oder an meinen übermüdeten Augen, doch ich hätte schwören können, dass sich die Wipfel der Kiefern gerade bewegt hatten. Das war merkwürdig, denn der Wind war kaum stark genug, um das Gras zu biegen, wie sollte er an den Bäumen rütteln können? Vielleicht hatte sich ein großer Vogel auf einem höhergelegenen Ast niedergelassen. Der Mäusebussard, den ich hier schon öfter gesehen habe etwa?
Ein Grollen war zu hören und sofort hob ich den Blick gen Himmel, doch der schaute unschuldig und noch immer strahlend blau auf mich herab. Ich lehnte mich vor und beobachtete den Waldrand genauer. Ein ungutes Gefühl beschlich mich, auch wenn ich es nicht genau benennen konnte. Etwas lag in der Luft, und es hatte nichts mit dem Rosenduft zu tun.
Plötzlich brachen etwa ein Dutzend Krähen zwischen den Baumwipfeln hervor. Als versuchten sie, sich gegenseitig zu warnen, trieben sie sich krächzend zur Eile an. Ich musste ihre Sprache nicht verstehen, um die Panik, die in den Rufen mitschwang, zu erkennen. Langsam erhob ich mich von der Bank. Hier stimmte etwas ganz und gar nicht. Ich sollte nachsehen, nahm ich mir vor, aber noch bevor ich einen Schritt machen konnte, begann der Boden unter meinen Füßen zu vibrieren.
Unheilverkündend dröhnte ein schweres Stapfen an meine Ohren. Es folgte dem Rhythmus von Schritten, doch wer oder was mochte groß genug sein, um das Erdreich zum Zittern zu bringen? Dann war es still. Unheimlich still. Die Krähen waren fort. Selbst der Wind schien den Atem angehalten zu haben und der sonst so fröhlich vor sich hinplätschernde Bach traute sich nicht mehr, einen Mucks zu machen.
Das Blut rauschte wild durch meine Adern, mein Herz schlug schnell, doch der Rest meines Körpers war erstarrt, unfähig davonzurennen, obwohl mein Gehirn die Anweisungen hinausschrie. Machte ich mich gerade wegen Nichts verrückt? Oder war dies der Moment, in dem man Darstellern in Horrorfilmen zurief, sie sollten doch endlich verschwinden?
Mit einem markerschütternden Brüllen erwachte der Wald zum Leben. In Todesangst flohen die letzten Waldbewohner in alle Himmelsrichtungen, während die Angst mich an Ort und Stelle fesselte und mich hilflos als Zeuge des Geschehens zurückließ. Seufzend bogen sich die Bäume auseinander und etwas Gewaltiges drängte sich dazwischen hindurch. Mit riesigen Schwingen wirbelte es den Staub des Waldbodens auf und stieg Flügelschlag um Flügelschlag weiter empor. Mein Atem setzte aus und mein Herz vergaß zu pochen. Ungläubig folgte mein Blick dem monströsen Wesen, das sich immer weiter in die Lüfte hob und weite Kreise über meinen Garten zog. Die Sonne strahlte auf die silbrig grauen Schuppen. Ein Drache!
Seine giftgrünen Augen fanden mich und starrten mich drohend an, bevor er sein Maul aufriss und mit aller Kraft brüllte. Ich wich zurück, ohne das Geschöpf aus den Augen zu lassen, stieß gegen die Bank und plumpste unsanft darauf. Mein Atem war inzwischen zu einem Keuchen geworden, doch den Drachen kümmerte das nicht. Mit einem Mal hob er den Kopf und stieß eine gleißende Flamme in den Himmel. Dann schlug er immer schneller werdend mit den Flügeln, visierte mein bisher so harmonisches Gartenidyll an und stürzte vom Firmament herab. Direkt auf die Erde zu, die ledernen Schwingen fest an den Körper gepresst. Im letzten Moment drehte er westlich ab, wo sich der kleine Weiher befand, riss das Maul auf und durchbrach die dunkle Wasseroberfläche. Die Fangzähne tief in den Rücken einer Bachforelle gebohrt, stieg er wieder in die Höhe.
Brrr. Brrr. Brrr. Das laute Vibrieren holte mich aus der Starre und ich schaute zu meinem Handy, welches nach Aufmerksamkeit lechzend auf der Fensterbank lag. Die Pause ist vorbei, dachte ich und blickte auf die Uhr. Ich nahm das Handy und die inzwischen kalt gewordene Tasse Kaffee und wollte schon zurück ins Haus, bevor ich mich noch einmal umwandte und dem eleganten Graureiher nachblickte, der mit dem Fisch im Schnabel eine letzte Runde über die Terrasse flog.