Mein Herz
Mein Herz,
ich folge dir schon eine Weile. Von der U-Bahn-Station, auf dem Weg nach Hause. Durch dunkle Gassen, die mir die Nackenhaare aufstellen würden, wenn ich denn welche hätte. Nicht zum ersten Mal überqueren wir die Brücke, die uns zur nächsten Apotheke bringt.
Ich bin dir so nah, dass ich den Duft deines Apfel-Shampoos riechen kann. Dezent wie eine Knospe, die kurz vor dem Erblühen ist. Du bemerkst mich nicht. Mein Mantel so dunkel wie die Schatten zwischen den Häusern. Meine Schritte so stumm wie ein Friedhof bei Nacht.
Ich folge dir – bis in dein Schlafzimmer. Warte neben dem Nachttisch bei deinem Bett. Durch das Fenster dringt Mondlicht herein und zaubert ein Lichtspiel auf der metallenen Oberfläche meiner Sense. Es wird nicht mein erstes Mal, aber in mir breitet sich ein Kribbeln aus. Dieser Kuss wird besonders.
Endlich kommst du mit einer Flasche Schnaps wieder. Du schüttelst den Kopf. Nein, du bist nicht der Typ für Alkohol. Vor allem nicht, wenn du allein bist. Mir gefällt der Gedanke, dass du unseren Moment klar spüren wirst. Steif sitzt du auf der Bettkante, beißt dir in die Lippen.
Zweifelst du noch?
Über tiefen Augenringen glänzt es feucht. Aber du weinst nicht. Nicht mehr. Längst schon bist du in deinen Tränen ertrunken. Dein Blick wandert durch den Raum. Suchend. Ich bin nah. Endlich finden deine Augen die Packung Tabletten. Dein Rettungsanker. Mit zitternden Fingern versuchst du sie zu öffnen. Erfolglos. Stattdessen fällt sie runter. Frustriert schnaubst du auf und suchst sie unter dem Bett. Aber deine Finger ertasten nur Staubhäschen. Ein Kichern aus deinem Mund durchbricht die Anspannung. Du weißt genau, dass die übrigen Tabletten reichen würden, um einen Elefanten lahmzulegen. Für jeden wäre das unpassend, aber ich verstehe dich. Es ist kein Laut der Fröhlichkeit, der dich aufatmen lässt. Es ist die Entschlossenheit, wodurch deine Schultern sinken. Sie blitzt in deinen Iriden auf. Du wirst dem Leid des Lebens ein Ende setzen.
Mir entweicht ein entzücktes Seufzen. Du bist bereit!
In Ruhe nimmst du die erste Tablette ein und ich halte meinen Atem an. Ich werde dir die Freiheit geben und nur dein Leid einfordern. Nur dein Leben nehmen. Mit einem lila Zopfgummi um meine Finger male ich Muster in die Luft. Vor einer Woche standen wir auf einem Hochhaus. Nachdem ich es gelöst hatte, tanzten deine Haare im Wind. Ich stelle mir vor – wie so oft –, welches Muster die Strähnen um deinen Kopf gelegt hätten, wäre dein Körper auf den Asphalt gepresst worden. Aber dein letzter Schritt blieb aus. Angst hielt dich fern von mir.
Damals. Zeit lässt sie verrinnen. Das Leben braucht sie auf. Unsere Treffen häufen sich. Die Verzweiflung treibt dich immer näher zu mir. Unser Kuss unausweichlich. Du bettest dich auf dein Kissen, streichst deine Haare wie eine Krone nach oben. Ein Muster – zufällig und wunderschön. Ich streiche die Decke glatt, fahre mit meinem Finger über die Linien, die deine Strähnen auf das Kissen legen. Mühselige Anstiege, Spitzen der Freude und tiefe Schluchten der Verzweiflung. Das ist das Leben, flatterhaft und zufällig. Und ich bin sein Ende, beständig und frei.
Nun sind deine Züge vollkommen entspannt. So friedlich, wie du im Angesicht des Todes aussiehst, schenkst du mir den perfekten Moment. Mein knöcherner Finger verharrt über deinen weichen Lippen, er zittert. Wirst du meinen Kuss spüren? Kurz halte ich inne, stelle mir vor, wie ein Leben sein könnte.
Ich bin bei dir, flüstere ich in dein Ohr. Gleich ist es vorbei.
Als ob du mich hören könntest, springst du auf. Ich folge dir ins Bad und sehe zu, wie du die Tabletten wieder loswirst. Du merkst nicht, wie ich deine Haare halte, dir über den Rücken streiche. Wie ich – zurück auf dem Bett – meine Arme um dich schlinge. In der Stille spüre ich dein Herz schlagen. Eine Melodie mit einem Riss. Du starrst dein Handy an, als könnte es dir eine andere Lösung zeigen. Aber ich bin dein einziger Ausweg.
Bis bald, flüstere ich. Ich warte auf unseren Kuss.
Ein warmes Gefühl breitet sich in meiner Brust aus, dort, wo sonst nur die Leere klafft. Ist das jene Freude, welche die Menschen empfinden?
Und du lässt mich warten, mein Herz. Nicht ungewöhnlich für ein intensives Treffen mit mir. Meine Zeit vergeht mit anderen: Männern, Frauen, Kindern und allem dazwischen – Leben ziehen an mir vorbei. Tode, die mich nicht berühren. Menschen, die ich nur einmal sehe. Ihr Sterben riecht nach Schweiß, salzigem Blut und Urin. Sie röcheln, keuchen und betteln um ihr Leben. Eines, das grausam zu ihnen war. Mich wollen sie verscheuchen. Trotzdem habe ich Erbarmen und ziehe den goldenen, süßen Nebel aus ihren Mündern – wie flüssigen Honig nehme ich alles in mir auf. Zerschneide mit meiner Sense die letzte Verbindung und beende ihr Leid. Pflücke das Leben. Es nährt mich, aber ich lechze nach mehr.
Obwohl ich mir sicher bin, dass du zu mir zurückkommen wirst – dein Herz ist gebrochen, das habe ich gehört – schleicht Kälte durch meine Knochen. Ich bin schon immer allein, doch ohne dich bin ich plötzlich einsam. Was, wenn du mich nicht mehr brauchst? Ist es vorbei, ohne dass ich es gemerkt habe? Ich verzehre mich so sehr nach dir, dass ich überall Ausschau halte. Dich in jedem traurigen Gesicht sehen will.
Als ich über einem Mann stehe, der hinter schneebedeckten Kartons erfroren ist, denke ich sogar, dass ich mir den Duft deines Apfelshampoos einbilde. Ich sauge dem Obdachlosen gerade die restliche Wärme aus – und da bist du. Rosige Wangen, ein Lächeln auf den Lippen. Du strahlst eine Freude aus, welche die Sterbenskälte schmelzen lässt. Und du bist nicht allein.
Freundschaft? Liebe?
Das alles sehe ich in deinen Zügen. Höre es im glockenhellen Klang deines Lachens. Du siehst anders aus, voller Farbe im Gesicht und ohne die Ringe unter deinen Augen.
Kannst du dich so verändert haben?
Pah! Nein, mein Herz. Glück ist nur eine flüchtige Droge des Lebens. Es wird dich erneut brechen. Und dann wirst du dich in meinen Schoß zurücksehnen! Nach meinem Kuss verlangen! Doch ich spüre Kälte durch das Loch in meiner Brust ziehen.
Fühlt sich so dieser Schmerz an, den meine Opfer verspüren?
Tausend weitere Tode. Einsame, Menschenmassen, Altersschwäche, blutiger Mord – es läuft wie im Film. Den Tod hält nichts und niemand auf. So viele Menschen füllen mich, aber füllen mich doch nicht mehr aus. Deine Abwesenheit ist wie eine Wunde, die sich nicht schließen will. Jeder Abend ist ein neuer Anfang. Jeden Morgen begrabe ich meine Hoffnung. Ich zähle die Tage, wo ich doch Jahrtausende überdauert habe.
Und da, ohne Vorwarnung, dringt dein süßer Duft in meine Nasenlöcher. Ein Funke flammt in mir auf, als ich dich im Graben liegen sehe. Bleiche Haut, verdrehte Glieder, Glassplitter im Haar. Zufällig und wunderschön. Der Lichtkegel eines Autos scheint durch mich hindurch, erhellt dein Gesicht, lässt die blutigen Schnitzer auf deinen Wangen rubinrot leuchten. Ich streiche dir zärtlich durchs Haar, sehe dir tief in die Augen.
Mein Herz.
Da spüre ich, das ist der Augenblick, in dem du die Schwelle übertrittst. Zum ersten Mal kannst du mich sehen. Den weißen Schädel, der in schwarzen Stoff gehüllt ist. Ich hoffe, dass du mein hautloses Lachen wahrnimmst, das dein Anblick in mir auslöst, und das muskellose Drücken meiner Hand, die deine umschließt und dich festhalten will. So lange habe ich auf dich gewartet. Du kneifst die Augen zusammen.
„Keine Angst, mein Herz“, flüstere ich. „Ich bin da.“ Es gibt noch so viel, was ich dir sagen will, was nicht in einen Tod hineinpasst.
Du keuchst. „Sterbe ich?“ Bedauern liegt in deiner Stimme.
Hast du dich so weit von mir entfernt?
Ich nicke. Was für eine Ironie, dass du jetzt am Leben hängst. Es hat dir so viel Kummer bereitet und ich kann dich endlich aus seinen Klauen befreien. Deine Lippen öffnen sich leicht. Goldener Nebel füllt die Zentimeter, die uns noch trennen. Alles liegt vor mir, was ich begehre. Ich beuge mich weiter über dich, mit meinem knochigen Brustkorb auf deinem Fleisch. Spüre das Blut durch deinen Körper rauschen. Schläge deines Herzens. Noch immer hämmert es wild gegen mich. Es will nicht aufgeben. Mir wird klar, dass es das nie wollte. Zerrissen und vernarbt, wie es ist. Es kämpft. Es will leben.
Ich lege meine Wangenknochen auf deine weiche Haut. Vergrabe meinen Schädel in der Beuge deines Halses. Sauge noch einmal deinen Geruch nach Apfel ein. Unsere Momente erfüllen mich.
„Mein Herz“, flüstere ich in dein Ohr. „Unser Kuss muss warten.”
Ungesehen, ungehört, schwebe ich aus dem Scheinwerferlicht. Überlasse deine Knochen der Heilung. So wie dein Herz es vorgemacht hat. Wunden und Heilung. So ist das Leben. Der Tod die einzige Erlösung von dem ganzen Leid. Ohne jegliches Gefühl. Aber nun sind Freude und Schmerz dort hineingeschlichen, wo Leere war. Du hast mir ein Herz eingepflanzt und es wachsen lassen. Und bis zu seinem letzten Schlag werde ich auf unseren Kuss warten.
In Liebe, dein Tod.