Sukzession
Martins Kinder stritten auf dem Rücksitz schon wieder über irgendeine Belanglosigkeit. Dabei hatte er gehofft, die Tageswanderung durch den Wasenfurter Nationalpark würde sie müde genug machen, um eine friedliche Heimfahrt zu gewährleisten. Nachdem etliche Schlichtungsversuche gescheitert waren (Bitte nicht so laut! Wie wär‘s, wenn ihr euch abwechselt? Wir hören jetzt ein Hörspiel und nachher – hey, solche Wörter will ich nicht hören!), musste Martin einsehen, dass die Ruhe des Waldes mit dem Drehen des Zündschlüssels geendet hatte.
Es gelang ihm, das Gezeter eine Weile auszublenden, indem er sich auf den beindruckenden Baumbestand des Nationalparks konzentrierte, dessen Ausläufer den Straßenrand säumte. Doch seine Selbstbeherrschung wurde von einem Tritt in seine Rückenlehne und dem immer lauter werdenden Heulen seines Jüngsten davongeschwemmt wie Straßenkreide in einem Regenschauer. Er wandte sich zu ihnen um und brüllte über ihr Gezanke hinweg:
„Jetzt ist Schluss!“
Und das war es auch.
Als Martin aufwacht, lebt er nicht mehr. Irgendwo zwischen der Landstraße und der Intensivstation ist er gestorben. Mit jedem Tropfen Blut, der durch zerstörte Blutbahnen in sein Gehirn gesickert war, anstatt zurück zu seinem Herzen zu fließen, war Martin ein klein wenig mehr verschwunden. Als das anschwellende Gehirn sich - weil es als einziges Organ vollständig von Knochen umgeben ist - selbst zerquetscht hat, ist von ihm nicht mehr viel übrig.
Und trotzdem existiert er. Erst in einem Krankenhausbett des Universitätsklinikums Wasenfurt, dann im Patientenzimmer einer neurologischen Rehabilitationsklinik.
Die körperlichen Funktionseinschränkungen sind schnell behoben. Nach drei Wochen kann er wieder ohne Hilfe laufen und wenn die Therapeutin ihm Fotos von Gegenständen zeigt, benennt er sie fast immer richtig. Die Ärzte sagen, er macht gute Fortschritte.
Aber etwas Wesentliches ist falsch: Martin ist nicht mehr Martin.
Er erinnert sich an alle Einzelheiten seines Lebens, ehe er auf die Gegenfahrbahn geraten und in das Auto einer 28-jährigen gerast war: Sandkastenfreundschaften, Schulhofprügeleien, der Duft ihres Haares beim ersten Kuss, Heiraten, Vater werden und auch an die unzähligen Bergmassive, Wüsten, Hochmoore und Wälder, die er im Laufe seines Lebens bereist hat. Doch es fühlt sich so an, als hätte jemand anderes diese Dinge erlebt.
Die Behandlung einer schweren Hirnverletzung gleicht dem Wiederaufbau nach einem verheerenden Erdbeben. Man kann Wege und grobe Strukturen unter den Trümmern freilegen, doch vieles ist unwiederbringlich zerstört. Und aus den Bruchstücken der Vergangenheit sprießen nun Gefühle, die Martin ein ganzes Leben wie Unkraut zu jäten gelernt hatte. Da ist Angst und Trauer, aber vor allem ist da Wut. Er versucht sie zu verstecken, denn wenn er sich zu sehr aufregt, fixieren ihn die Pfleger wieder ans Bett. Aber die Wut wächst so schnell und so zahlreich, dass er es nicht mehr schafft sie auszurupfen, ehe der Joghurtbecher durchs Krankenzimmer fliegt (Wollen die mich verarschen?! Schon wieder Schokoladenpudding?!) oder die Fernbedienung aus der Hand des Zimmernachbarn gerissen wird (Nur Idioten schauen Tatort!).
Die medizinische Rehabilitation versucht, dem Wildwuchs Herr zu werden. Ein Sammelsurium an Heilmethoden soll wiederherstellen, was eine Sekunde Unaufmerksamkeit ihm geraubt hat: 9 Uhr Psychotherapie, 10 Uhr Physiotherapie, 11 Uhr Ergotherapie, nach dem Mittagessen Gruppenspaziergang und Logopädie, 16 Uhr Besuchszeit.
Die Frau, die er geheiratet hat, sitzt da, ein verkrampftes Lächeln auf den Lippen, die Hände knetend. Sie fühlt es auch: Etwas stimmt nicht. Aber sie hofft darauf, dass die Ärzte Martin zurückbringen - also den Echten.
Sein Neurologe rät ihm zu Entspannungsübungen oder einem Hobby, das ihm hilft, negative Emotionen abzubauen: „Ihre Frau meinte, dass Sie vor Ihrem Unfall gerne Wandern waren. Bewegung ist ein gutes Ventil für Stress. Sie könnten diesen Zeitvertreib wieder aufnehmen“, schlägt er vor.
Martin schnaubt. Der Begriff ‚Wandern‘ ist zu trivial für diese Leidenschaft. Der alte Martin - den er zu imitieren versucht - hatte Trekkingtouren in die abgelegensten Regionen der Erde unternommen. Ob inmitten eines Schneesturms an den Hängen der Annapurna oder im Dschungel Borneos, umgeben von Krokodilen und Kobras: Das Überleben in der Wildnis hatte ihm eine Befriedigung beschert, wie es kaum etwas anderes zu tun vermocht hatte.
„Hinsichtlich der Steigerung Ihrer Impulskontrolle und Frustrationstoleranz halte ich eine ambulante Verhaltenstherapie für sinnvoll“, fährt der Neurologe fort.
Martin erwidert, er solle seine verdammte Fresse halten.
Dann ist er wieder zuhause. Geheilt, aber nicht gesund. „Frontalhirnsyndrom“ steht im Abschlussbericht. Als Martin fragt, was das bedeutet, sagt der Arzt, dass eine Schädigung des vorderen Hirnareals die Persönlichkeitsmerkmale verändern könne.
Martin interessiert aber viel mehr, ob es wieder so werden wird wie früher.
„Wahrscheinlich nicht“, lautet die Antwort. Das kostet ihn seinen Job. Frühberentet mit 45.
Und die Frau, die vor Glück geweint hatte, als er aus dem Koma erwacht war, sagt, er sei nicht mehr der Mann, den sie geheiratet habe. Die Kinder hätten Angst vor ihm. Dabei gibt es auch Tage, an denen er sie nicht anbrüllt.
Sie hilft ihm bei der Wohnungssuche und allen dazugehörigen Formalitäten, als sei sie seine Mutter und nicht die Frau, mit der er achtzehn Jahre ein Bett geteilt hat. ‚In guten wie in schlechten Zeiten‘ hatte die Hure versprochen.
Bevor sie geht, übergibt sie ihm die nüchterne Bezifferung eines zerstörten Lebens: Eine Akte voller Schriftstücke, die er zwar kognitiv versteht, mit denen er aber doch nichts anzufangen weiß.
Zwischen den Arztberichten, den Anträgen auf Zahlung von Krankengeld, dem Schriftverkehr zur Unfallrente und zur Anerkennung einer Berufsunfähigkeit ist auch noch das Schreiben der Staatsanwaltschaft, die Anklage wegen fahrlässiger Tötung erheben will. Die Tornadowarnung nach dem Erdbeben der Stärke 9.
Ganz unten im Ordner findet er den Zeitungsartikel. Sein Blick gleitet über die Schlagzeile: Eine Tote und ein Schwerverletzter bei Unfall im Wasenfurter Wald.
Martin lacht, nur kurz, aber er lacht. Amüsiert sich über die schlampige Recherchearbeit, wo doch von zwei Toten die Rede hätte sein müssen. Der Martin, der er einmal war, ist an diesem Tag ebenfalls verunglückt.
Und trotzdem ist da Leben in ihm. Ein Herz, das schlägt und ein Hirn, das unter seinem neuen Dach aus Titan seine Arbeit tut. Ein neues Leben. Ein anderes Leben.
Martin steht in Ruinen einer untergangenen Kultur. Verfallene Bauten lassen noch die imposanten Gedankengebäude von früher erahnen, doch werden sie von impulsiven Handlungen überwuchert. Emotionen, die längst gezähmt waren, galoppieren ungestüm durch seinen Kopf. Die wilde Natur seines Selbst hat sich die in frühester Kindheit kultivierten Felder zurückerobert, auf denen in ordentlichen Reihen Anpassung an die gesellschaftlichen Konventionen und gute Manieren angebaut wurden. Und wo seine Mutter früher die Beete der Höflichkeit gegossen hat, fallen ihre Tränen nun auf verbuschtes Land, weil er geäußert hat, sich lieber nackt in einen Ameisenhaufen zu setzen, als zu ihrer Geburtstagsfeier zu kommen.
Sukzession nennt man diesen Vorgang in der Biologie: Die Rückkehr der standorttypischen Pflanzen und Tiere, nachdem sie zeitweise verdrängt wurden. So wie Gras rasch einen aufgeschütteten Erdhügel besiedelt, wächst nun Ignoranz auf Martins Sozialverhalten
Er klappt den Ordner zu und schmeißt ihn in den Müll. Stattdessen öffnet er seinen Laptop. Ein Flug ist schnell gebucht. Was kümmert ihn, dass er laut Strafverfolgungsbehörde das Land nicht verlassen darf? Was kümmern ihn die Menschen, die er zurücklässt? Nur seine Kinder bedeuten ihm etwas. Schließlich ist es ein Urinstinkt, sich um das Wohlergehen seiner Nachkommen zu sorgen und sie sind besser dran ohne einen Vater, dessen Stimmung so unberechenbar ist, wie die eines wilden Tieres.
Etwas ist geblieben vom Martin, dessen grobe Züge er trägt: Die Sehnsucht nach der Einsamkeit einer ursprünglichen Natur. Nein, sie hat sich sogar potenziert. Dem alten Martin genügte es, der Zivilisation ein- oder zweimal im Jahr zu entfliehen. Doch das reicht nicht mehr. Die sibirische Taiga wartet auf ihn. Mit ihren endlosen Nadelwäldern, den kurzen, mückenreichen Sommern und den stillen, schneereichen Wintern. Eine Landschaft so rau, wie er selbst.
Wiedergeboren dank der modernen Medizin. Manchmal fragt er sich, ob die unausgesprochene Alternative nicht besser gewesen wäre. Er hat nicht um dieses zweite Leben gebeten, aber eigentlich tut das niemand. Werdende Mütter und Väter machen sich auch keine Gedanken darüber, ob ihr Kind überhaupt geboren werden will. Alles, was einem bleibt, ist, seinen Platz in der Welt zu finden. Und Martin spürt, dass er in die Wildnis gehört. Denn sie ist nicht nur da draußen, sondern auch in seinem Kopf.