Das Echo der Freiheit
Manchmal höre ich diese Stimme. Sie ist nicht mehr als ein fernes Wispern, ein klangvolles Rauschen in den Blättern, ein schon längst verhalltes Echo. Und doch dringt sie tief in mein Innerstes ein. Ihre Worte verstehe ich nicht, aber ihre Melodie berührt mein Herz und entfacht einen Wunsch in mir. Den Wunsch nach den Harmonien der Welt, nach den Klängen des Unbekannten.
Schnell schüttele ich diese Gedanken ab. Sie haben keinen Platz in meinem Leben. Denn die Zeiger der Uhr drehen sich unerbittlich weiter und dulden niemals Aufschub. Nach einer schlaflosen Nacht suche ich neue Kraft, um meinem täglichen Handwerk gewissenhaft nachgehen zu können. Am Küchentisch schaufle ich den grauen Einheitsbrei in den Mund. Obwohl ich ihn auf meiner Zunge spüre, schmecke ich doch nichts. Die Aromen dieser Welt sind verlorengegangen. Immer weiter bis aufs letzte Quäntchen. Innerlich lechze ich nach etwas, das meinen Gaumen kitzelt, nach dem Gout des Lebens. Dieser Traum wird fortgerissen, ebenso schnell und restlos wie die Spuren des Mahls vom stetigen Strahl des Wasserhahns hinfort gespült werden. Müde lasse ich mich an den Schreibtisch sinken. Meine Fingerspitzen fahren über die rauen Rücken der Bücher, die dicht gedrängt auf dem Regal stehen, säuberlich aufgeschnürt wie eine Perlenkette. Die Lettern auf ihnen sind schon lange verblasst, erzählen nur das ewig Gleiche. Doch ich sehne mich nach etwas Neuem. Wie von selbst erhebe ich mich. Träge schlurfe ich über das blankpolierte Parkett, strebe der Tür entgegen, getrieben von diesem unerfindlichen Drang loszurennen und niemals stehen zu bleiben. Ich steige die Stufen des Treppenhauses hinab. Begleitet vom immer gleichen Klang meiner Füße auf den Fliesen, passiere ich immer gleiche Türen, die wie mit der Schablone gemalt wirken. Endlich verlasse ich das Gebäude. Ein grauer Kasten, der verderblich über mir emporragt, als wolle er mich unter seiner schieren Präsenz zermalmen. Milchige Fenster stieren mir entgegen wie hundert blinde Augen. Einst spiegelte sich in ihnen das Leben, nun sind sie abgestumpft vom täglich gleichen Bild. Menschen strömen aneinander vorbei, ohne die Existenz der anderen wahrzunehmen. Eine monotone Masse gesichtsloser Gestalten schiebt sich durch die Gassen, der Bestimmung in ihrem Leben folgend: Arbeit, Konsum, Pflicht. Die Straßen um mich herum sind angefüllt von diesen an Menschen erinnernde Schemen. Sie ergießen sich durch Wege der grauen Stadt, wie ein Sturzbach in Folge eines heftigen Unwetters. Ich wandere zwischen ihnen, sie eilen an mir vorbei, farblos, bedeutungslos. Niemand schenkt mir Beachtung, ihre leeren Gesichter stur nach vorne gerichtet, niemals zurück. Ich passiere den Bahnhof. Weitere namenlose Scharen drängen voran, engen mich ein und berühren mich doch nicht. Sie branden in die schwarzen Züge, wie Wellen, die an der Küste brechen. Die Menschen fließen hinein. Wer durch eine der Türen dringt, wird zusammengepresst bis jeglicher Raum zum Atmen versiegt und hat doch sein Ziel erreicht. Andere verfehlen den Eingang, prallen gegen das kalte Metall und setzen ihren Weg unbeirrt fort zur nächsten Pforte. Ich gehe vorbei. Mich zieht es in die Fremde. Die dunklen Züge locken mich nicht. Sie sind reizlos und voll falscher Versprechen: Die grenzenlose Ferne, die doch stets den eingestellten Weichen folgt. Mein Blick gleitet zum Ziffernblatt der Bahnhofsuhr. Ihre Zeiger drehen sich. Ohne Unterlass wandern sie ihre Runden. Sekunden, Minuten, Stunden. Es gibt keinen Unterschied. Die Zeit zerrinnt wie eine Handvoll Sand zwischen den Fingern beständig zu Boden rieselt. Un-greifbar, unvermeidbar.
Da höre ich es wieder, das verheißungsvolle Flüstern. Es umgarnt meine Gedanken, liebkost mein Herz. Alles wird sich ändern, wenn ich dieser Stimme folge. Voller Schmerz und Leid, Schatten und Tränen wird das Leben sein, versucht der Verstand mir klarzumachen, an meine Logik zu appellieren. Enttäuschungen sind vorprogrammiert. Nur das Beständige gibt unserem Leben einen Sinn. Leistung. Ansehen. Macht.
„Aber da ist mehr“, höre ich mein Herz und erkenne endlich den Ursprung des Wisperns: „So unendlich viel mehr.“
Ich folge dieser Stimme.
Erst ein langsamer Schritt, dann ein zweiter. Ich werde schneller, fliege geradezu über den perfekt geglätteten Asphalt der Unendlichkeit entgegen. Da durchbreche ich die unsichtbare Mauer, die mich hier gefangen hielt. Es ist ähnlich dem ersten Atemzug nach einem schier endlosen Tauchgang. Leben füllt meine Lungen. Farben, Düfte, Klänge prasseln auf mich ein wie sanfter Regen. In jeder Faser meines Körpers spüre ich es. Freiheit. Ein beschwerlicher Weg, doch der Pfad, den wahren Sinn des Lebens zu ergründen.