Die Tänzerin
„Un, deux, trois, Pas de Bourré. Und Plié, Relevé!“
Die Worte des Ballettmeisters schallten durch den großen Spiegelsaal und alle Tänzerinnen bewegten sich synchron an der langen Ballettstange zur Klavierbegleitung des Korrepetitors. Das Licht kam aus Neonlampen an der hohen Decke und war kalt, ungemütlich und grell, sodass es keinen Fehler unentdeckt lassen würde. Es roch nach Schweiß, es war feucht im Raum durch die vielen Körper. Getanzt wurde immer die gleiche Abfolge an Bewegungen, die man schon am Schleifen der Ballettschuhe über den hellen Linoleumboden erkennen konnte. Alle Tänzerinnen trugen die identischen Strumpfhosen, Ballettanzüge und Spitzenschuhe in rosa und beige. Die Haare waren streng zum Dutt frisiert.
Alle waren auf Einheitlichkeit und Perfektion bedacht, sowohl in ihrem Aussehen als auch in ihren Bewegungen - nur keine Abweichung, die den strengen Blick des Ballettmeisters oder gar einen Tadel auf sich gezogen hätte. Die immer gleichen französischen Begriffe wurden ein ums andere Mal gerufen, die sie seit ihrer Kindheit auswendig kannte, auch wenn sie erst später die Wortbedeutungen dahinter verstanden hatte. Doch das alles liebte Mia so am Ballett. Alles war vorhersehbar. Der Körper wusste irgendwann, was er zu tun hatte und konnte sich der Bewegung hingeben, die Wiederholungen beruhigten den Geist. Je häufiger eine Bewegung getanzt wurde, umso perfekter wurde sie. Jeder Muskel, jede Sehne hatten ein bestimmtes Bild des Körpers zu formen. Anmut und Leichtigkeit, die die Anstrengungen dahinter verbargen.
Dies war das Abschlusstraining der gerade zu Ende gehenden Saison. Mia sah der ersten Gruppe versonnen zu, als ob sie gerade Zeugin von etwas ganz Neuem würde, und nicht von etwas, das sie selbst schon ihr ganzes Leben getan hatte. Ihre Gedanken schweiften zurück zur vergangenen Saison.
Der Höhepunkt war die Weihnachtsaufführung des Stadttheaters gewesen. Sie hatte seit Saisonbeginn hart trainiert und sich am Ende zum ersten Mal in ihrer Karriere die Rolle der Primaballerina gesichert. Zugegeben, ein wenig Glück war auch dabei gewesen, da die Favoritin für diese Rolle sich kurz zuvor verletzt hatte. Doch sie hatte Einsatz gezeigt und sich im anschließenden Casting trotz ihres jungen Alters und ihrer vergleichsweise geringen Erfahrung durchgesetzt.
Wenn Sie an diese Aufführung zurückdachte, spürte sie jede einzelne Bewegung in der Erinnerung. Die Aufregung, als sie auf die Bühne kam, und die ihr Herz schneller schlagen ließ, aber sogleich verschwunden war, als die Musik einsetzte. Die ersten Bewegungen, die ganz automatisch abliefen und sie in eine Art Trancezustand versetzten. Das gleißende Licht der Scheinwerfer, die nur auf sie gerichtet waren, und wodurch das gesamte Publikum in einem Schwarz versank, in dem sie nichts erkannte. Die Musik, die den Rhythmus ihrer Bewegungen vorgab und sie eins mit ihrem Körper werden ließ. Der tosende Applaus am Ende. Das Glück bei ihrer Verbeugung vor dem Publikum.
Vor ihrem inneren Auge spielte sich alles noch einmal ganz deutlich ab und trug sie an einen anderen Ort, dort sah sie etwas ganz anderes als das routinemäßige Training hier im Saal. Sie hielt diese Bilder in sich fest.
„Oh, hey Mia, was machst du denn hier?“ Christina, eine der anderen Tänzerinnen aus der Kompanie, riss sie aus ihren Gedanken. Sie kannten sich seit dem Kinderballett, doch als Freundin hätte sie sie nicht bezeichnet. In der Kompanie gab es nur Konkurrentinnen.
„Ich wollte nur noch einmal vorbeikommen, um ein letztes Mal beim Training zuzusehen.“
„Und das ist okay für dich“?
„Ja, klar.“
Christina lächelte unsicher, nickte Mia zu und ging ohne ein weiteres Wort in Richtung der Umkleide, um sich für das Training fertigzumachen.
Keiner wusste so recht, was er zu ihr sagen sollte. Da waren nur die verstohlenen Blicke und das scheue Grüßen, keiner redete richtig mit ihr. Seit sie durch diesen Autounfall im Januar im Rollstuhl saß, war sie kein Mitglied der Kompanie mehr. Und damit nicht mehr Teil dieser Welt. Erfahrungen wie die Weihnachtsaufführungen würde sie nie wieder machen. Ihr blieb nur noch heute ihren Spind in der Umkleide auszuräumen, auch wenn sie die Dinge darin gar nicht mehr brauchte.
Sie wusste noch nicht, was sie von nun antun würde, denn bisher hatte es in ihrem Leben nur das Tanzen gegeben. Vor ihr lag auch noch ein langer Weg der Reha. Dass sie es heute ohne Hilfe hierhergeschafft hatte, war ein Triumph ihres Willens über ihren kaputten Körper. So hatte ihr Physiotherapeut es bezeichnet. Doch ihre Verbissenheit und Anstrengung hatten sie in der Kompanie weit gebracht und würden es jetzt wieder tun. Nur auf einem noch unbekannten Weg.
Un, deux, trois. Plié und Relevé. Wie das Französische es sagt: Beugen und wieder aufstehen. Anmut und Leichtigkeit. Ihr Körper war keine Tänzerin mehr. Aber in ihrem Geist würde sie für immer eine bleiben.