Maksym
Ich stehe gedankenverloren an der Kasse im Supermarkt. Mein Korb ist nicht voll. Es fehlt nur noch etwas Reiseobst. Denn mein Mann und ich fahren morgen sechshundertfünfzig Kilometer zu unserer Enkelin. Maja wird schon drei Jahre alt.
Das Band kommt näher. Vor mir ist ein kleiner Kunde, ein Junge, vielleicht elf Jahre alt. Er sieht angespannt aus und packt seinen Einkauf sehr sorgfältig und bedacht auf das Band. Dadurch fällt er mir eigentlich auch erst richtig auf. Es sind die Ernsthaftigkeit und die volle Konzentration, mit der er jeden Artikel greift, die mich berühren. Brot, Nudeln, Buchweizen, Zwiebeln, Kartoffeln, Sirup, Öl, vier Äpfel und ein kleiner Riegel Schokolade.
Er legt dann, wie automatisch den Warentrenner aufs Band, damit ich beginnen kann, meinen Einkauf für den Scan parat zu legen. Er weiß genau, wie man sich heutzutage ‚verhält‘, was erwartet wird, wie es die meisten anderen Kunden machen und wie man bloß nicht auffällt.
Ich reagiere darauf unerwartet weich und emotional.
Der Junge, ich nenne ihn Maksym, und ordne ihn in meiner Fantasie in das Heer der geflüchteten Menschen aus der Ukraine ein, bewegt sich langsam weiter. Zaghaft fährt er seinen Einkaufswagen an der Kassiererin vorbei, während der Scanner Artikel für Artikel erfasst. Die Anspannung ist Maksym deutlich anzusehen. Die Frau an der Kasse sagt zu ihm: „Das macht neunzehn Euro sechsundachtzig.“
Das Gesicht von Maksym entspannt sich augenblicklich. Er hat den Preis deutlich gehört und verstanden und in dieser Hundertstelsekunde die Bestätigung, dass er sich zuvor nicht verrechnet hat. Für die anderen Kunden hinter uns ändert sich in diesem Moment gar nichts. Ein Kassiervorgang, wie jeder andere und wie immer.
Ich aber kann die feine Veränderung bemerken, sogar fast körperlich spüren. In mir, tief in meinem Herzen, klingt eine Saite an. Ein dunkler Ton in Moll, den ich sehr, sehr lange nicht mehr vernommen habe. Bildsplitter blitzen in meinem Kopf auf.
Nur, wer arm ist und mit jedem Cent rechnen muss, oder es früher auch lange musste, kann empfinden, was in dem Kerlchen vor sich geht. Ich meine aus der ganzen Körpersprache zu erahnen, nein, bestimmt zu wissen, dass er genau zwanzig Euro in seinem Portemonnaie hatte und ihm ein Riesenstein vom Herzen gefallen ist, weil seine Vorberechnung richtig war und er alles bezahlen kann und nicht etwa noch Ärger bereitet, die Kassiererin einen Fehlbon buchen muss, die Folgekunden unnötig warten müssen, er den Einkauf nicht freibekommt.
Ich bin mir ganz sicher, dies hat er schon einmal erfahren müssen. Und ich weiß sehr genau, wie das ist.
So unglaublich peinlich! Maksym wollte nur einfach unter einer Tarnkappe unsichtbar werden oder im Boden versinken, wie ich auch schon einmal. Alle Augen waren auf ihn gerichtet und es wurde getuschelt. Das Tuscheln kam ihm allerdings wie ein lautes und drohendes Beschimpfen, wie versteckte Verachtung vor, und er stand so allein, kam sich vor wie im Zoo oder Zirkus. Aus seinem Mund kam kein Ton. Ihm fehlten ganze zwei Euro vierzehn. Nie wieder, schwor er sich. Und, welchen Artikel hätte er auch zurückgeben sollen, wo doch die Mutter alles davon so dringend erwartet und braucht?
Ich stelle mir vor, wie Maksym mit seiner Mutter und Schwester nach Kriegsbeginn vor über drei Jahren aus Charkiw nach Deutschland gekommen ist.
Maksym war acht, Anna erst vier. Der Vater an der Front. Im letzten Herbst ist er verwundet worden. Diese Nachricht hatte die Mutter erst Wochen später, kurz vor Weihnachten, erhalten. Seitdem ist sie noch schwermütiger geworden, geht kaum aus der Wohnung. Maksym sagt jeden Morgen zu ihr: Mamo, vse bude dobre! (Alles wird gut!)
Über Vater und Mutter und die Sorgen und die Not kann Maksym immer noch mit niemandem sprechen. Die Familie ist bis heute nicht wieder zusammen gewesen. Ob der Vater zurück in den Krieg geschickt wird, ist ungewiss.
Er geht in die dritte Klasse, spricht mittlerweile gut Deutsch. Aber ein Deutscher ist er nicht geworden. Das ist auch niemals sein Wunsch. Er fügt sich ein, so gut es geht und träumt doch immer wieder von Haus und Garten in Charkiw. Da gab es im Sommer viele Sonnenblumen und ein großes Wasserbecken zum Baden. Alle haben viel gelacht.
Er glaubt ganz fest daran, dass er eines Tages – egal wie lange es noch dauert – wieder in seine Heimat zurückkehren wird. Ob sich sein Herzenswunsch erfüllen wird?
Und bis dahin ist er der Mann daheim, wird der Mutter, die nicht raus will, so viel Arbeit abnehmen, wie er kann. Also, auch weiterhin mit dem knapp zugeteilten Geld den Einkauf erledigen, die Schwester früh mit zur Schule nehmen und nachmittags wieder nach Hause bringen und mit ihr spielen.
Ich wechsele mit dem Jungen kein einziges Wort. Wir sehen uns auch nicht direkt an, weil er bescheiden und doch gleichzeitig so stolz seinen Blick nicht hebt. Aber ich bin ihm tief verbunden, habe großen Respekt vor seiner Stärke und Reife.
Wird der Vater zur Familie zurückkehren, die Mutter wieder gesund? Sie ist erst fünfunddreißig! Was für ein Mann und Vater wird Maksym selbst einmal werden?
Ich verlasse langsam den Supermarkt. Der Junge ist längst gegangen. Ich sehe in den großen Scheiben mein schwimmendes Spiegelbild, und die Saite in Moll schwingt wieder an. Maksym, Ukraine, heute – ich, Jugoslawien, damals.