Zehn Minuten
Sie lehnte sich zurück, schloss für einen kurzen Moment die Augen und atmete einige Male tief durch. Ihre beste Mitarbeiterin hatte mit nur einem flüchtigen Blick erkannt, dass es Zeit wurde für einen kleinen Augenblick der Ruhe und Zurückgezogenheit. Sie schloss die Tür, und sie war allein. Es gab Tage, an denen sie ihren Beruf innerlich verfluchte.
Im Abstand von zehn Minuten mussten die Menschen einbestellt werden, damit der Betrieb wenigstens einigermaßen wirtschaftlich lief. Zehn Minuten, in denen zwischen Herzinfarkt und Haarausfall einfach alles dabei sein konnte, womit der menschliche Körper aufwarten kann. Ein morgendlicher Blick in den Kalender ließ bereits erahnen, was für ein Tag da wohl vor ihr lag. Unter dreißig, selten da, keine wesentlichen Vorerkrankungen – das lief auf eine Krankschreibung aufgrund eines banalen Infektes hinaus und ließ sich gut in zehn Minuten abhandeln. Jenseits der sechzig, gerade aus dem Krankenhaus entlassen oder völlige Erschöpfung nach Wochen der beruflichen Dauerbelastung – hier war es in aller Regel unmöglich, dem Menschen, der da vor ihr saß, innerhalb der zehn Minuten auch nur annähernd gerecht zu werden.
Gedämpft konnte sie wahrnehmen, dass draußen permanent das Telefon klingelte, Gespräche geführt wurden oder eilige Schritte vorbeihasteten. Jeder war hier ein Rädchen im Getriebe und dieses lief auf Hochtouren. Eigentlich alles wie immer, Routine eben.
Sie war jahrelang geschult worden, mit Stress umgehen, unter Druck richtige Entscheidungen treffen zu können. Sie hatte unzählige Menschen behandelt und Schicksale begleitet, auch bis zu ihrem Ende. Der Tod war ihr kein Fremder, das Schreckgespenst mit dem Namen „Krebs“ ein allzu häufiger Gast. Vor ihrem inneren Auge tauchten Gesichter und Namen auf, die ihren Weg bis hierher geprägt hatten. Und hier würde sich nun ein weiteres Gesicht unwiderruflich einbrennen.
Der junge Mann war vor drei Wochen zum ersten Mal seit langer Zeit wieder bei ihr gewesen. Er schilderte enormen beruflichen Stress, ein wiederkehrendes Sodbrennen und ein Druckgefühl im Oberbauch. Sitzende Tätigkeit, deutlich übergewichtig, Ernährung optimierungswürdig – eine Magenschleimhautentzündung die Folge. So simpel, so gut zu behandeln. Aber anstelle der erwarteten Besserung nahmen die Schmerzen kontinuierlich zu und beförderten den jungen Mann innerhalb weniger Tage in die Notaufnahme des nahe gelegenen Krankenhauses. Etliche Untersuchungen später saß er nun vor ihr, den Entlassungsbrief in den Händen. Eine fast schon unheimliche Gelassenheit ging von ihm aus, als er sie bat, ihm doch bitte den Inhalt dieses Briefes zu erklären.
Sie nahm den Brief an sich, im schlimmsten Fall ein kleines Magengeschwür erwartend, und begann zu lesen. Mit jeder Zeile musste sie sich zwingen, ihren professionellen Gesichtsausdruck zu wahren. Sie sah ihm in die Augen und begann in möglichst verständlichen Worten zu erläutern, dass er sein bisheriges Leben nicht zurückbekommen würde. Dass er seinen Beruf nicht mehr ausüben, seinen Hobbys nicht mehr nachgehen könne. Klinikaufenthalte und Chemotherapien würden fortan den Alltag bestimmen und dieser Alltag würde mit großer Wahrscheinlichkeit nur noch wenige Monate anhalten.
Als sie geendet hatte, schaute sie in ein nach wie vor regungsloses Gesicht, während sie selbst mehrmals schlucken musste, um die Fassung nicht zu verlieren.
Der junge Mann hob schließlich die Schultern an, sagte: „Dann ist das eben so, da kann man nichts machen!“ und bedankte sich für die offene und ehrliche Aufklärung. Die hätte er sich auch im Krankenhaus gewünscht, dort habe man ihn aber weitestgehend im Unklaren gelassen. Rasch hatte er seinen Brief, den Autoschlüssel und sein Handy gegriffen und war aus der Tür.
Und dort saß sie nun an ihrem Schreibtisch, all die verheerenden Diagnosen und Prognosen noch im Ohr. Sie konnte den Gedanken nicht verdrängen, dass sie soeben in weniger als zehn Minuten ein Leben zerstört hatte. Auf der rationalen Ebene war ihr bewusst, dass sie eigentlich nur medizinische Fakten in eine verständliche Sprache übersetzt hatte. Aber für den jungen Mann würde sie für immer diejenige bleiben, die aus den schlimmsten Befürchtungen eine grausame Gewissheit gemacht hatte. Gern hätte sie ihm Hoffnung zugesprochen und ihre Unterstützung zugesichert, aber ihr war bewusst, dass der junge Mann dafür noch nicht bereit war. Die Unausweichlichkeit seiner Situation hatte gerade erst angefangen, Einzug in sein Bewusstsein zu halten.
Sie wusste, dass es für den Moment nichts mehr für sie zu tun gab. Und doch überkam sie das dringende Bedürfnis, einfach aufzustehen, die Praxis zu verlassen und die Menschen mit all ihren Sorgen und Problemen sich selbst zu überlassen. Es gab Tage, an denen sie ihren Beruf verfluchte.
Die Tür öffnete sich einen Spalt breit und ihre beste Mitarbeiterin schaute hinein. Ein kurzer Blick von der Tür, ein kleines Nicken vom Schreibtisch und der Ruf der Mitarbeiterin in Richtung des inzwischen übervollen Wartezimmers: „Der Nächste bitte!“