Im Krankenhaus sind alle Wände weiß
Das Schweißband an seinem gesunden Handgelenk ist dreckig und an den Rändern ausgefranst. Luca versucht, einen losen Faden herauszuziehen, aber er widersetzt sich. War klar, dass seine Schwester ihm nichts schenkt, was sofort kaputt geht.
„Damit du in der Vert nicht auf die Schnauze fällst, weil dir der Schweiß ins Gesicht läuft“, hat sie gesagt. Das war an dem Tag, an dem er in die Crew aufgenommen wurde. Damals hat er gelacht.
Die schnarrende Stimme des Arztes bohrt sich in seine Gedanken: „Ganz wichtig ist, dass Sie das ernst nehmen, Herr Bonnaventura. Fünf Brüche, das ist kein Pappenstiel. Sie sollten mindestens sechs Monate kein Skateboard fahren.“
Er spürt die Hand seiner Mutter auf dem Bein.
„Luca?“, fragt sie. „Hast du gehört, was il dottore gesagt hat?“
Luca presst den Kiefer zusammen. Klar hat er gehört, was der Typ sagt, aber er will nicht antworten. Wenn sie ihn nur endlich allein ließen.
„Er wird sich schon damit abfinden“, sagt der Arzt.
Als er das Krankenzimmer verlassen hat, stößt sein Vater einen Seufzer aus.
„Na. Dann hat sich dieser Schwachsinn mit dem Profi-Skaten wohl erledigt. Wenigstens das.“
Die Tür geht auf und Cem schiebt sich ins Krankenzimmer, hinter ihm André und Daniel. Cem lehnt Lucas‘ Skateboard an die Wand und gibt Lucas‘ Mutter die Hand. Sie zögert kurz, bevor sie sie ergreift.
„Wir müssen jetzt auch gehen“, sagt sie und steht auf.
Cem lässt sich auf den frei gewordenen Stuhl fallen und wirft Luca eine Skate-Zeitschrift auf das weiße Bettlaken.
„Damit du schneller gesund wirst“, sagt er grinsend. Dann mustert er ihn lange schweigend. Jetzt wird er gleich fragen, denkt Luca und hält die Luft an.
„Und?“, fragt Cem schließlich.
Erleichtert atmet Luca aus. Eine allgemeine Frage, das ist gut.
„Rechtes Handgelenk, Fußgelenk und Fuß“, zählt er auf.
„Nichts an der Wirbelsäule?“
Luca schüttelt den Kopf.
Cem schlägt ihm erleichtert auf die Schulter.
„Dann ist ja gut! Wir dachten schon, du würdest länger ausfallen! Der Wettkampf ist ja erst in vier Monaten, bis dahin bist du wieder ganz.“
Jetzt müsste Luca ihm eigentlich erzählen, was der Arzt gesagt hat. Er hat das erste Wort schon auf den Lippen, da sieht er das entspannte Grinsen auf Cems Gesicht und senkt den Blick auf sein Schweißband.
„Wieso? Was wäre denn, wenn ich länger ausfalle?“, fragt er beiläufig.
„Tust du ja nicht, oder?“
Luca sagt nichts.
„Siehst du! Und für die Shootings in zwei Monaten musst du dich ja nur auf das Board stellen, das kriegst du schon hin. Dann kriegen wir endlich Kohle!“
Als die drei sich verabschieden, schläft Luca ein. Im Traum steht er wieder am Rand der Vert. Etwas stimmt nicht. Das Schweißband ist nicht an seinem Handgelenk. Er hört die anderen rufen: „Mach schon, drop-in!“
Er verdrängt den Gedanken an das Schweißband, kippt mit dem Board nach vorn und rast die Schräge hinab. Der Wind pfeift in seinem Ohr, seine Füße sind fest auf dem Brett. Ein kurzer Push aus den Knien und es geht aufwärts. Er ist fast oben, geht tiefer in die Knie, bereitet sich auf den Sprung vor. Plötzlich fühlt er ein kurzes Rucken, als eine Rolle an der Kante hängen bleibt und seine Fahrt abrupt gestoppt wird. Seine Füße verlieren die Haftung, er fliegt in die Luft. Er hört das Krachen des aufprallenden Boards und spürt einen harten Schlag, als er mit voller Wucht auf die rechte Seite knallt. Ein scharfer Schmerz schießt in seine Hand.
Mit einem Ruck wacht Luca auf. Er liegt im Bett und sein Handgelenk pocht. Um den Schmerz zu vergessen, starrt er an die Decke. Weiß. Alles in diesem Zimmer ist weiß. Die trostlose Farbe presst sich auf seine Augäpfel, als würde sie sie langsam eindrücken.
Wie gerne würde er jetzt mit seiner Schwester reden. Sie würde wissen, wie er das den anderen beibringen kann. Aber Aurora ist in Frankfurt. Was, wenn die anderen ihn aus der Crew kicken? Nein. Das wird er nicht zulassen. Nicht nach allem, was er für die Aufnahme getan hat. Er muss schneller wieder gesund werden. Das ist doch bestimmt nur eine Frage der Willenskraft.
Luca schwingt sein gesundes Bein aus dem Bett, greift nach einer Krücke und humpelt mit zusammengebissenen Zähnen zu seinem Skateboard. Er legt es auf den Boden, stellt vorsichtig den gesunden Fuß darauf. Mit der gesunden Hand stützt er sich auf die Krücke und zieht den gebrochenen Fuß nach. Der Schmerz ist so betäubend, dass ihm Tränen in die Augen schießen. Irgendwie schafft er es, sich zurück ins Bett zu schleppen.
Als Cem ihn am nächsten Tag besucht, hat er die kleine Niederlage schon überwunden. Zwei Monate hat er ja noch Zeit zu üben. Er grinst Cem an und fragt: „Na, wie läuft’s?“
Cem zieht umständlich einen Stuhl aus der Ecke.
„Was machst du da, Alter?“, fragt Luca lachend. „Nimm den hier, der steht doch schon neben dem Bett.“
„Der wackelt“, behauptet Cem und zerrt weiter an dem Stuhl. Als er ihn endlich aus der Ecke befreit hat, stellt er ihn nicht ans Bett, sondern nur vor sich ab.
„Was ist los?“, fragt Luca.
Cem ruckelt an dem Stuhl, schaut ihn nicht an. Als er endlich spricht, ist seine Stimme so leise, dass Luca ihn fast nicht versteht.
„Es gibt ein Problem. Die Agentur, die will die Shootings schon nächste Woche machen. Braucht die Bilder unbedingt für die nächste Kampagne. Wir haben versucht, mit denen zu reden, Alter, echt, wir haben denen gesagt, dass wir erst in acht Wochen können. Aber die sind stur geblieben. Nächste Woche oder der Deal platzt.“ Cems glänzende schwarze Augen scheinen noch größer als sonst, er guckt Luca flehend an.
„Wen habt ihr gefragt?“, fragt Luca tonlos.
Cem zögert, blickt auf seinen Hände, die weißen Knöchel, die sich um die Stuhllehne krallen.
„Stefan“, sagt er schließlich. „Wir haben Stefan gefragt, ob er für dich einspringen kann.“
Ausgerechnet Stefan, denkt Luca. Dieser arrogante Arsch, der sich für was Besseres hält, bloß weil er sich immer das Geilste kaufen kann. „Alles klar“, sagt er trotzdem. „Gute Wahl.“
Der erleichterte Blick von Cem tut ihm weh, aber er ignoriert es und wechselt das Thema. Als Cem endlich geht, ist er froh.
Von den nächsten Tagen bekommt Luca fast nichts mit. Er liegt im Bett, hört Musik und starrt auf das beklemmende Weiß der Decke.
Als es Samstag an der Tür klopft, stellt er sich schlafend. Er will keinen sehen.
„Tu nicht so, als ob du schläfst.“
Er öffnet die Augen, sieht das ironische Glitzern in den Augen seiner Schwester und muss grinsen. Noch nie in seinem ganzen Leben hat er sich so gefreut, sie zu sehen.
„Und was willst du jetzt machen?“, fragt Aurora, als Luca endlich alles erzählt hat. „Weiter im Bett liegen und rumheulen, weil nicht alles nach Plan gelaufen ist?“
„Musst du jetzt auch noch auf mir rumhacken?“
„Wieso auch noch?“ Aurora klingt ungerührt. „Alle anderen lassen dich ja anscheinend im Selbstmitleid versinken.
„Mein Leben ist zerstört“, schreit er. „Da wird man doch wohl mal ein paar Tage lang Selbstmitleid haben dürfen!“
„Haste ja jetzt gehabt.“
Luca fühlt sich, als wäre er wieder acht und würde sich darüber beklagen, dass die anderen Kinder nicht mit ihm spielen wollen. Schon damals hat Aurora kein Mitleid gehabt. Stattdessen hat sie ihn mitgenommen, als sie mit Thilo Skaten ging. Damit hat alles angefangen.
„Hey“, sagt Aurora jetzt, ihre Stimme ist etwas weicher. „Du kannst doch jetzt nicht einfach aufgeben. So kenn ich dich gar nicht.“
„Aber ich kann ja nichts machen, dass es schneller geht!“
Voller Wut schlägt er mit der Faust auf das Bett. Der Schmerz in der Hand tut fast gut.
„Weißt du noch, wie du angefangen hast zu skaten? Wie oft du damals gesagt hast, dass du das nicht schaffst?“
Natürlich erinnert Luca sich daran. An die ersten Tricks und wie lange er gebraucht hat, sie zu beherrschen. An die vielen Stürze und wie er trotzdem immer weiter gemacht hat. An den Tag, an dem er das erste Mal die Vert hinuntergerast ist, schneller als alle anderen. Wie Thilo, der beste Skater, ihm auf die Schulter geklopft hat. „Aus dir wird noch mal was, Mann.“
Mann. Nicht Kleiner.
„Ich hab halt immer weiter gemacht. Aber das geht ja jetzt nicht!“
„Bloß, weil du in den nächsten Monaten nicht skaten kannst, heißt das ja nicht, dass du gar nichts machen kannst. Such dir halt einen Job. Nimm dir ein Beispiel an Thilo, der hat sich auch nicht hängen lassen.“
Thilo hat nach einem Unfall seine beginnende Skater-Karriere einfach an den Nagel gehängt und einen Skateshop aufgemacht. Luca geht oft in den Laden, zum Rumhängen oder um Freunde beim Einkauf zu beraten. Und Thilo hat ihm erst kürzlich einen Job angeboten. Vielleicht wäre das was für den Übergang. Dann hätte er zumindest erst mal Geld und seine Ruhe vor den Forderungen der Eltern.
Und in sechs Monaten würde er weiterschauen.