Noch nicht
Was sind schon sieben Jahre? Dass das Tantchen 100 werden würde, stand für mich außer Frage. Und dann würde sie wie Allan Karlsson aus dem Fenster steigen und sich in das Abenteuer ihres Lebens stürzen.
Schweigend stehe ich hinter Tantchens Rollstuhl im Aufzug der städtischen Klinik. Mager ist sie geworden. Ich schüttele den Kopf. Das, das ist das wahre Leben. Am Ende sind es Bauchspeichelkrebs, Einlauf und Katheder. Alles andere sind Geschichten für Menschen wie mich. Menschen, die an glückliche Rentenjahre voller Sinn, voller Lust, voller Abenteuer bis zum letzten Tag glauben, während sie in der Rushhour des Lebens feststecken. Machtlos. Getrieben. Ungeduldig. Geschichten für eine Gesellschaft, die mit dem Luxus, alt werden zu dürfen, überfordert ist. Geschichten, die hässliche Wörter wie Patientenverfügung und Vorsorgevollmacht nicht benutzen.
Was das Tantchen wohl über den verrückten Roadtrip von Allan Karlsson denkt?
„Lydia, hier geht es nicht zur Cafeteria“, sagt sie plötzlich.
Ich bleibe stehen. Vor uns quietscht das Drehkreuz des Haupteingangs. Unermüdlich schiebt es den Desinfektionsmittelgeruch raus und die Geräusche der Stadt rein. Das stete Rauschen des Verkehrs, das Holpern der Straßenbahn, das Aufflattern der Tauben, das Plätschern des Brunnens vor der Tür, das hohe, tiefe, laute, leise Gebrabbel der vorbeihuschenden Menschen. Da ist Bewegung. Da gehört mein Großstadttantchen hin.
„Tantchen, kennst du eigentlich Allan Karlsson?“
„Nie gehört. Warum?“
„Nicht so wichtig. Lust auf einen anständigen Kaffee?“
Sie dreht sich zu mir um, zieht fragend die Augenbrauen nach oben und nickt.
Na, dann. Auf geht’s! Scheiß auf den sturen Schweden, der alles in die Luft jagt! Wir gehen die Sache auf Frauenart an: subtil und gemeinsam.
Der Wind weht nach Osten und trägt den süßlichen Kakaoduft der Schokoladenfabrik durch die Stadt. Ich schiebe das Tantchen strammen Schrittes zur Straßenbahnhaltestelle. Die Sechs kommt in zwei Minuten.
Etwas umständlich hieve ich den Rollstuhl in den Waggon, noch unbeholfener schnalle ich ihn samt Tantchen an. Sie hat noch keinen Ton gesprochen. Ist der Ausflug wirklich eine gute Idee?
Drei Stationen später möchte ich sie am Marktplatz abschnallen.
Sie nimmt meine Hand. „Noch nicht.“
Noch nicht, okay. Ich setze mich auf den gegenüberliegenden Sitz. Die Fahrgäste sind so bunt wie unsere Stadtviertel. Eine alte Frau, die im Jogginganzug in einem klapprigen Rollstuhl sitzt, an dem ein Beutel mit Urin baumelt, ist bei weitem nicht die skurrilste Gestalt.
Die Straßenbahn leert sich, nachdem wir die Stadtgrenze passieren und raus in den Speckgürtel fahren, wo sich uniforme Einfamilienhäuser aneinanderreihen. Irgendwann wird es grüner und hügeliger. Dann geht es wieder hinein in die Hochhäuserschluchten. Die Sechs fährt im Kreis. Wir fahren im Kreis. Oh, je. Kein Roadtrip begann jemals mit einem Rundkurs. Oder?
„Tantchen, wollen wir dieses Mal am Marktplatz aussteigen?“
„Mhm.“
An der vorletzten Haltestelle steigt eine schwangere Frau zu. Das Tantchen löst sofort ihren Gurt, rollt zur Seite, deutet auf den Klappsitz hinter ihr und sagt: „Setzen Sie sich.“
„Tantchen! Ich kann doch aufstehen“, gehe ich dazwischen.
„Schon gut. Bei mir ist mal nicht mehr die Hebamme schuld“, sagt sie. „Das Leben ist wie eine Straßenbahnfahrt. Menschen kommen, bleiben und gehen.“
Sie zwinkert der jungen Frau zu. Verlegen nimmt diese den Klappsitz an.
Was ein Spruch. Wie unangenehm. Am Marktplatz bugsiere ich sie unsanft nach draußen. Tief durchatmen.
Auf dem Weg zum Café Roma schweift mein Blick in das Schaufenster des Einkaufcenters. Wenn Shoppen mal nicht zu einem Mädels-Trip dazugehört. Dieses Mal schiebe ich das Tantchen, ohne zu fragen, durch die Drehtür und direkt in die Damenabteilung.
„Warte kurz hier. Ich suche dir ein paar nette Sachen zusammen und bin gleich wieder da. Wir peppen dein Outfit noch ein bisschen auf.“
Ich tauche zwischen Grob- und Feinstrickjacken und Caprihosen mit und ohne Gummizug ab.
Als ich zurückkomme, ist das Tantchen weg.
„Tante?“, rufe ich. Keine Antwort. Ich stelle mich auf Zehenspitzen und scanne die Verkaufsfläche.
Da! Bei den Umkleiden. Eine Verkäuferin führt sie gerade aus der Kabine. Ich eile zu ihr.
„Alles in Ordnung? Tantchen, was ist passiert?“
„Diese freundliche Dame hat gefragt, ob sie mir behilflich sein kann.“
Das Tantchen trägt eine enge, ausgewaschene Jeansjacke und darunter ein weißes Kleid mit blauen Blumen. Elfenbeinfarbige Beine lugen hervor und die Füße stecken in braunen Birkenstocks.
„Fesch, Tantchen“, sage ich und hänge meine Langweiler-Ausbeute unauffällig an die Kleiderstange. „Das kannst du doch bestimmt direkt anlassen, oder?“ Ich stelle mir lieber nicht vor, wie das Tantchen es alleine geschafft hat sich umzuziehen, und noch weniger, wie ihr eine fremde Frau dabei geholfen hat.
Im Café Roma ergattern wir wenig später einen Platz am Fenster.
„Mie signore, was darf ich euch Hübsches bringen?“, fragt die Bedienung.
„Für mich einen Caramel Macchiato und das Focaccia mit Tomaten, ohne Knoblauch, bitte. Weißt du es auch schon Tantchen?“
„Einen großen, schwarzen Kaffee“, antwortet sie. „Und was ist denn der Unterschied zwischen einer Rote-Bete-Energy-Booster-Bowl mit marktfrischen Gurken, Babyspinat und hausgemachter Vinaigrette und einem gemischten Salat?“
„Scusi? Wie meint die Dame das?“
„Wieso einfache Dinge unnötig kompliziert machen?“, fragt sie. „Ich möchte den Rote-Bete-Salat ohne Schnickschnack.“
„Gerne, mia signora.“ Die Bedienung huscht irritiert weiter.
„War das nötig, Tantchen? Seit wann magst du überhaupt Rote Bete?“
Sie deutet schelmisch in Richtung Katheder. Ich verdrehe die Augen. Rotes Pippi! Das kann doch nicht ihr ernst sein.
„Tantchen, wenn du keine Lust auf das hier hast, dann können wir es auch einfach abbrechen.“
„Was ist denn ,das hier’, Lydia?“
„Na, unser kleiner Ausflug. Ich wollte dir eine Freude bereiten, dich aus dem Krankenhausmief zurück in die Stadt holen. In die Freiheit.“
„Dachtest du dabei wirklich nur an mich?“, fragt das Tantchen zu meiner Überraschung.
„Ja. Ich meine, ich weiß es nicht.“ Eigentlich will ich es dabei belassen. Doch die nächsten Sätze purzeln unkontrolliert aus mir heraus.
Ich erzähle dem Tantchen, wie mir die Geschichte von Allan Karlsson durch den Kopf gegangen ist, und dass ich mir für sie auch so ein Abenteuer wünsche, weil sie immer so eine resolute, tolle, mutige, lebensfrohe Frau gewesen ist, weil sie ein anderes Ende verdient hat, nein, weil sie noch gar nicht am Ende angekommen sein soll. Das ist so unfair! Ich sage ihr, wie leid mir das alles für sie tut, der Krebs, das Krankenhaus, die Pflegestufe. Sie, die sich immer um andere gekümmert hat. Sie, die jeden Abend Blutdruck kriegt, wenn es Zeit für die Nachrichten ist und mit den Fernsehmoderatoren debattiert, als könnte sie die Welt mit ihren klaren Worten ein Stück besser machen. Ich bewundere sie dafür, weil es ihr doch egal sein könnte, an was die Menschheit in den nächsten Jahren zu Grunde geht: Klimawandel, Größenwahn, KI, Krieg, Dummheit. Ist es aber nicht. Eine Frau wie sie braucht die Gesellschaft. Ich brauche sie.
Als ich schluchzend innehalte, fragt das Tantchen: „Möchtest du eine Gabel vom Rote-Bete-Salat?“ Ich habe gar nicht bemerkt, dass unser Essen da ist.
Das Tantchen nimmt meine Hand. „Lydia, mir geht es gut. Ich warte schon lange auf den Tod. Weißt du, wie zermürbend diese Ungewissheit ist? Wenn dieser unfähige, alte Körper immer mehr zu einer Last für dich und andere wird, bekommst du diese Frage nicht aus dem Kopf: Wie lange habe ich noch? Ich bin ein laufendes Zeugnis der Vergänglichkeit, was euch jungen Menschen das Herz so schwer macht.“
„Tantchen…“
„Schsch. Ich will dir nur sagen, dass es unsinnig ist, wegzulaufen. Du kannst vor dem Ende nicht fliehen und irgendwann freust du dich sogar, endlich ankommen zu dürfen.“
Sie schaut aus dem Fenster und aus dem Nichts strahlt sie mich an.
„Das heißt aber nicht, dass du nicht auch Recht hast. Das Leben ist erst vorbei, wenn es vorbei ist.“ Sie deutet auf ein Plakat, das eine ABBA-Show für den frühen Abend ankündigt. Ich zögere keine Sekunde, verlange die Rechnung und wir eilen los.
An der Theaterkasse erfahren wir, dass die Show bereits ausverkauft ist.
„Aber heute ist doch mein Geburtstag“, sagt das Tantchen mit einer Stimme so süß wie Marzipan. Die Kassiererin traut sich nicht nach dem Ausweis zu fragen.
So kommt es, dass für mich ein Plastikgartenstuhl herbeigeschleppt wird und für das Tantchen ein Happy-Birthday-Ballon, den wir an ihren Rollstuhl knoten. Show-Business vom Feinsten. Wir feiern und träumen in der ersten Reihe losgelöst von Zeit und Raum.
I Have a Dream, a song to sing
To help me cope, with anything
If you see the wonder, of a fairy tale
You can take the future, even if you fail
Als wir spät am Abend zur Klinik zurückkehren, frage ich das Tantchen: „Und? Was jetzt?“
„Jetzt gehe ich weiter sterben.“