Hybrid-Anke
„Hört nochmal in euch rein. Welches Gefühl ist grad vorrangig?“ Verlässlich wie eine Schweizer Uhr beendet Irene die wöchentliche Yogastunde.
„Also ich bin entspannt. Und du?“ Anke liegt auf der Matte neben mir und hat die Augen geschlossen. Sie antwortet nicht, scheint noch tief in sich versunken zu sein.
„Möget ihr anders gehen als ihr gekommen seid.“ Ich liebe dieses Mantra. Woche um Woche gibt es mir Kraft.
Während ich darauf warte, dass Anke bereit ist aufzustehen, sauge ich die Atmosphäre um mich herum noch einmal auf. Das weitläufige Zelt, unter welchem wir die letzte Stunde verbracht haben, liegt direkt am See. Umgeben von alten Kastanien und Jugendstilvillen bade ich in der Geräuschkulisse der Stadt: Eine Tram quietscht auf der Kreuzung, Autos hupen, ein Krankenwagen heult und irgendwo schnattern Enten um die Wette. Nur hier, unter dem grünen Dach aus Zelt und Baumkronen, ist es still.
Wieder schaue ich zu Anke, ihre Augen sind nun geöffnet.
„Wie fühlst du dich?“, wiederhole ich. Keine Antwort, sie starrt einfach nach oben.
„Ok, ich schlag’ vor wir geh’ n noch was in der Strandbar trinken.“ Keine Reaktion. Ich wünschte, ich könnte Ankes Gefühle in solchen Situationen, wenn sie einfach schweigt, besser erkennen. Wäre es nicht einfacher, wenn man die Gefühle der Menschen anhand ihrer Augenfarbe erkennen könnte? Grün für Freude, Schwarz für Trauer, Rot für Wut und so weiter? Heute würde mir das helfen!
„Ja, lass’ gehen. Hab ja eh Zeit!“, unterbricht sie endlich meine Gedanken.
Wir rollen unsere Matten ein und schlendern langsam los. Der Gang zur Strandbar ist mir zur geliebten Gewohnheit geworden. Um diese Uhrzeit sind kaum noch Badegäste da und man kann zuschauen, wie die Sonne hinter den Dächern der Stadt untergeht. Vielleicht bringt sie das auf andere Gedanken?
„Ich weiß, ich bin heut keine gute Gesellschaft. Sorry. Aber das Ganze hat mich echt aus der Bahn geworfen.“
Endlich sitzen wir in einem der Strandkörbe. Wie vermutet, sind wir fast allein. Ich wage nicht, sie zu unterbrechen, schaue sie einfach nur an.
„Nach all den Jahren, wie können die das machen?“, bricht es aus ihr heraus. Die Stimme bebt, die rechte Hand verkrampft sich um die Bierflasche.
„Ich hab so viel gegeben: Zeit, Energie, Ideen. Auf so viel verzichtet. Und jetzt das. Einfach so entlassen?“
Wut, eindeutig Wut. Ihre Augen müssten glühend rot leuchten in diesem Moment. Ich nehme ihr die Bierflasche vorsichtig aus der Hand. Will sie immer noch nicht unterbrechen.
„Aber weißt du was das Schlimmste an der ganzen Sache ist?“ Ich schüttle den Kopf.
„Ich weiß gar nicht mehr wer ich bin ohne meinen Job!“
„Was?“ Ich schaue sie erstaunt an.
„Na ja, wie stellst DU dich denn jemandem vor?“ Sie greift nach ihrem Bier und versucht, das durchweichte Etikett der Flasche abzuziehen. „Bei mir läuft das so:
Ich bin Anke, Senior Consultant bei so und so. Ich lebe gerade in der oder der Stadt. Punkt.“
„Ah, verstehe ...“ Eine Lüge, ich verstehe nichts.
„Ich habe MICH irgendwo auf dem Weg hierher verloren.“
„DICH verloren?“
„Ja! Die andere Anke. Die außerhalb ihres Jobs.“ Es verwirrt mich, wenn sie über sich selbst in der dritten Person redet.
„Anke, die Freundin, die Partnerin, die Tante, die Sportlerin, die Kreative. Die alle hab ich vernachlässigt, immer hinten angestellt.“ Sie atmet tief durch. „Und da hab ich mich verloren, bin mit 100 km/h in ’ne Sackgasse gerannt, ohne links und rechts zu schauen. Hab mich selbst auf nur diese eine Rolle reduziert, nur daraus meinen Selbstwert gezogen. Und jetzt ist sie weg und ich fühle mich leer.“
Trauer: Ihre vorher leuchtend roten Augen würden jetzt schwarz werden. Ein tiefes Schwarz in dem man sich verlieren kann.
„Ach komm, jetzt lass aber mal die Kirche im Dorf!“ platzt es aus mir raus. Das Glas des kleinen Tisches zwischen uns klirrt, als ich meine Flasche hart darauf abstelle. Aus ihren schwarzen Gedanken gerissen schaut mich Anke verwirrt von der Seite an. Ihre rechte Augenbraue wandert in Richtung Haaransatz.
„So what, du hast deinen Job verloren. Mit deiner Erfahrung findest du morgen was Neues. Deswegen geht doch die Welt nicht unter!“ Meine Stimme klingt schriller als geplant.
„Wow, danke für dein Mitgefühl!“
„Ich fühle mit dir. Glaub mir. Aber du übertreibst.“
„Du verstehst nicht!“
„Dann erklär’s mir.“
„Natürlich kann ich mir ’nen neuen Job suchen. Das ist nicht der Punkt. Der Punkt ist, dass ich Angst habe, dann wieder in meiner Sackgasse zu landen. Das will ich nicht!“
„Ok, gut. Was willst du dann?“ Wir machen Fortschritte.
„Darüber denke ich die ganze Zeit nach, wenn du mich nicht grad anschreist.“
„Ich schreie nicht!“
„Doch tust du!“
Schweigen.
„Ich glaube, ich muss so ’ne Art Hybrid-Anke werden, jemand, der alles gleichmäßig in sich vereint.“
„Hybrid-Anke?“ Einen Moment lang herrscht Stille zwischen uns und dann ... prusten wir laut los.
„Okay, okay… ich helf’ dir Hybrid-Anke zu werden.“, sage ich nach einer Weile, immer noch lachend.
„Danke“.
Bilde ich es mir nur ein oder schimmern ihre Augen jetzt grün?