Leben mit Leidenschaft oder die Reduktion auf das Wesentliche
Wenn mein Sohn Auto spielt, legt er den Kopf auf den Boden und fährt mit 10cm Abstand vor seiner Nase entlang. Er spielt hingebungsvoll und ohne Rücksicht auf Kollateralschäden. Wenn er Auto fährt, lebt und liebt er, und wenn ihn etwas aus diesem Moment herausreißt, schmerzt ihn das. Dieses Spiel ist für mich der Inbegriff eines Lebens mit Leidenschaft.
Die Buddhisten bezeichnen diese emotionale Verwicklung in das Leben als Leidenszustand und raten, diesen zu verlassen und sich stattdessen auf den Kern der Dinge, das Wesentliche, zu konzentrieren. Die Lösung sei, alle Anhaftungen loszulassen, mit der Erde und dem Universum zu verschmelzen und zu lieben. Dabei helfe Meditation.
Also habe ich meine Hand in die Erde gesteckt und Samen hineingelegt. Verschmolzen bin ich nicht, aber das Gefühl der kühlen, weichen Erde in meiner Hand heilt und beruhigt mich. So verstehe ich, wenn einer sagt, es sei nützlich, sich „mit der Erde zu verbinden.“
Die Samen auf meinem Balkon habe ich mit viel Hingabe gegossen, umgetopft, weiter gegossen, von Blattläusen befreit und sie sind zu schönen großen Cosmea herangewachsen mit rosa, violetten und weißen Blüten. Sie machten den Balkon zu einem lebendigen Ort. Eine Ameisenkolonie hat sich angesiedelt und trank Saft der Blattläuse, die sich wiederum von meinen Cosmea ernährten. Dieser Interessenkonflikt blieb den ganzen Sommer. Mal gewannen Ameisen und Blattläuse, mal ich und der Brennnesselsud. Letztlich hat der Einzug des Winters unserem Spiel auf Zeit ein Ende bereitet.
Im Jahr darauf bemerkte ich, dass die Fliesen unter den Kübeln durch das Gießwasser beschädigt waren. Ich hatte also mit viel Hingabe etwas geschaffen und dabei etwas Anderes zerstört. Der Kreislauf des Lebens, würden die Buddhisten sagen, und, um mit dieser Bürde fertigzuwerden, füge man „leben“ ein „i“ hinzu.
„Ich liebe dich.“ Dieser L-Satz schwirrte mir als junger Mensch jahrelang im Kopf herum. Er war wie ein Schmetterling, der im Zimmer umherflattert: neugierig, ein wenig verloren und ohne klare Vorstellung davon, was ein Zimmer ist und ob er das dort finden kann, was er sucht.
Irgendwann kam jemand, auf den ich diesen Satz richten konnte. Er blieb eine Weile. Nachdem er gegangen war, gab es ein Loch an der Stelle, wo der L-Satz gekeimt und gewachsen war. Dieses Loch füllte sich mit Wasser und wurde ein See. Als der See schließlich vergletscherte, baute ich mir ein Schloss aus Eis. Ab und zu kam mich jemand besuchen. Einige Male hat einer versucht, das Eis mit seiner Körperwärme zu schmelzen und blieb kleben. Letztlich föhnten wir die Stelle und ich ließ ihn ziehen.
Ein paar Jahre später kam der Frühling und der L-Satz kehrte zurück. Er hatte in Kenia überwintert, war übers Meer zurückgeflogen und eines Tages saß er wieder im Kirschbaum. Er kam und ging, wie die Mönchsgrasmücke, die am Wegrand ihr Lied sang. Ich hab ihr gern zugehört, zwei Minuten, dann flog sie wo anders hin.
Und irgendwann spürte ich, jetzt ist es so weit. Es ist Platz geworden, das Loch und der See sind gegangen. Da bin ich losgezogen und durch die Lande gestreift, hab eine Sternschnuppe gesehen und einen Wunsch gedacht. Eine Woche später kam jemand und wir sind zusammen geblieben. Ich wusste, wenn so ein gewünschtes „Ich liebe dich“ Realität wird, ist das ein Geschenk.
Wir sind zusammen weiter gegangen und erlebten die Dinge zum ersten Mal gemeinsam: haben das erste Mal zusammen Cocktails getrunken, sind das erste Mal zusammen im Meer geschwommen. Und morgens, wenn ich aufgewacht bin, hat die Sonne Lichtsprenkel durchs Rollo geworfen. Der Blumentopf auf dem Nachttisch war verdorrt, aber das war egal. Auf der anderen Seite lag er neben mir, er war warm, atmete sanft und roch nach Leben. Damals legte ich mein Ohr auf seine Brust und spürte, wie sein Herz schlug. Mein eigenes Herz ist mir dann in die Hose gerutscht und ich war so glücklich, dass es im Bauch wehtat.
Eines Tages wachte er auf und sagte: „Lass uns zusammenziehen.“ Und dann taten wir das.
Ab da an sind wir jeden Morgen nebeneinander aufgewacht, aneinandergerückt, haben uns eingepasst in unser neues Leben. Manchmal fuhren wir noch weg, haben Cocktails getrunken oder sind im Meer geschwommen. Aber es war nicht mehr das erste, sondern das zweite, dritte Mal oder jeden Dienstag. Es war ruhiger geworden und nichts hat mehr wehgetan. Eines Tages kam ich heim, der Tag fühlte sich leer an und ich dachte „Und, was nun?“
Und dann kam das Kind.
Ich hab mein Zimmer geräumt und bin Mama geworden. Die Leere füllte sich mit schlaflosen Nächten, in denen ich wach lag, weil das Kind röchelnd atmete. Oder ich hochschreckte, weil ich nicht hörte, wie das Kind atmete. Seitdem atmet das Kind, rennt weg, lacht, und ich renne hinterher, vergesse dabei zu atmen, kann nicht schlafen und verteidige meinen Schreibtisch im Wohnzimmer gegen Autoangriffe und umfallende Saftgläser. Zuweilen tut mir der Bauch weh, und dann fliehe ich irgendwohin, wo keine Menschen sind.
Und wenn ich dann auf einer Bank sitze und dem Vogel lausche, der nur noch eine Mönchsgrasmücke ist und kein „Ich liebe dich“ Gedanken mehr evoziert, dann spüre ich wieder innere Leere, und suche in den ganzen kleinen Bedürftigkeiten nach dem Wesentlichen, was fehlt: zwischen den Cocktails, die wir nicht mehr trinken, und den Nachmittagen, die wir nicht mehr faul und gedankenlos am Strand liegen, stelle ich fest, dass ich seinen Herzschlag schon lange nicht mehr gespürt hab, ganz zu schweigen davon, dass mir mein Herz mal wieder in die Hose gerutscht wäre. Mein Bauch schmerzt nicht mehr vor Glück sondern vor Sorge und das zarte Band, das uns verbindet, ist zu einer Schlinge geworden, die mir die Luft abschnürt.
Ich sitze also auf meiner Bank und stelle einen Plan auf, in dem ich versuche, alle auf der Strecke gebliebenen Leidenschaften unter einen Hut zu bringen und verheddere mich gnadenlos im Prioritätengewirr und gegebenen Zeitfenstern. Allein dadurch, dass jedes noch so kleine Bedürfnis für sich genommen wichtig ist, und der Tag nur 24 Stunden umfasst, macht mich kirre im Kopf. Es bleibt die Erkenntnis: ich muss ausrangieren. Wenn ich zum Wesen der Dinge vordringen will, muss ich alle Möbel vor die Tür stellen. Ich flüchte mich in den Buddhismus und versuche, alles Irdische loszulassen. Meine Familie, meinen Gelderwerb, meine Wünsche, meine Rechte, meine Pflichten.
Nachts träume ich. Mich stört ein Seil im Rücken. Von jedem Winkel, in den ich mich verkrieche, zieht es mich nach Hause. Es schnürt mich ein, stört mich beim Laufen und unterbricht mich in dem, was ich tun möchte. Also nehme ich eine Schere und zerschneide es. Der erste Atemzug ist befreiend. Die Spannung ist weg, meine Gliedmaßen schlackern lose wie Marionettenarme im Wind. Dann durchfährt mich ein stechender Schmerz, der Verlust reißt mir schier die Eingeweide aus dem Leib. Du musst loslassen und dich auf das Wesentliche besinnen, denke ich, und versenke mich in Meditation.
Später sehe ich mich am Computer sitzen. Ich reduziere 5 Texte auf einen, kürze diesen von 11.000 auf 9.000 Zeichen und stelle fest, dass die Hälfte dessen, was geblieben war, nun keinen Sinn mehr ergibt. Delete. 5.000 Zeichen. Was bleibt, ist ein Gerüst ohne Fleisch. Zu viele Knochen, die unnötigen Verästelungen müssen weichen. 1.500 Zeichen. Ich verdichte den Kern auf die Grundaussage: „Ich liebe dich.“ 15 Zeichen. Spätestens hier erübrigt sich eine Überschrift. Leerzeichen sind obsolet geworden. 13 Zeichen. „Dich“ kann weg, denn der Partner spielt für den Text keine Rolle mehr. 9 Zeichen. „Ich“ verschwindet im Kosmos. 6 Zeichen. Da die Handlung zu lieben ohne Subjekt nicht stattfinden kann, ist das Verb überflüssig.
Übrig bleibt
ein
.
An dieser Stelle wache ich auf. Mein Mann schnarcht und ich liege mit offenen Augen da. Dann steht das Kind an meinem Bett und hat ein Problem. Als ich ihm trockene Sachen anziehe, sieht es mich sehr ernst an.
„Du Mama? Weißt du, ich wünsche mir zum Geburtstag eine ferngesteuerte Unterhose.“
„Ja.“ Wir lachen.
Anschließend wische ich den Boden, lege das Kind schlafen und schmeiße den Plan zur Reduktion auf das Wesentliche in den Mülleimer. Pfeif auf Perfektion, sollen doch die Cosmea die Blattläuse fressen!
Es lebe das Chaos. Es lebe die Bedürftigkeit. Es lebe das Leiden, das Leben schafft.