Der Verdacht
Ich möchte niederschreiben, was im Haus meiner Großeltern geschah in dem Sommer, als ich acht oder neun war. Aber ob es wirklich geschehen ist? Mit Gewissheit kann ich es nicht sagen. Ich frage mich immer noch, ob es ein Traum war, oder ob sich das, was ich gesehen habe, tatsächlich zugetragen hat. Wie sehr ich mir immer gewünscht habe zu wissen, woran ich mit Großvater bin. So bin ich ihm all die Jahre, so gut ich konnte, aus dem Weg gegangen, unfähig, ihn auf die Ereignisse von damals anzusprechen.
Und dann diese Zeitungsberichte letzte Woche. Nach all den Jahren.
Damals: Damals sollten wir in den Sommerferien ein paar Wochen auf dem Land im Haus meiner Großeltern verbringen, Marcella, unser Au-Pair und ich, während mein Vater beruflich ans andere Ende der Welt reisen musste und meine Mutter ihn begleitete. Das Haus lag am Rande eines kleinen Dorfes und hatte einen schönen, großen Garten.
Eines Abends habe ich im Garten etwas beobachtet. Meine Großmutter war nicht da, sie war zu einer Freundin gefahren, nur Großvater und Marcella waren zu Hause. Ich war schon im Bett, konnte nicht schlafen. Ich bin dann aufgestanden, um zur Toilette zu gehen, und auf dem Rückweg bin ich am Flurfenster stehengeblieben, um ein wenig in den Garten zu schauen, der im letzten Licht des Tages geheimnisvoll dalag mit all seinen dunklen Winkeln und hellen Flecken.
Und dann sah ich sie.
Marcella lehnte am Gartenhaus am unteren Ende des Gartens, und Großvater stand vor ihr. Sie schienen sich sehr angeregt zu unterhalten. Wie Großvater sie manchmal angesehen hatte in den letzten Tagen, wenn er sich unbeobachtet fühlte. Das hat mir immer ein komisches Gefühl gegeben. Ob Großvater auch findet, dass sie so gut riecht?, habe ich damals gedacht. Ich stand am Fenster und schaute angestrengt nach draußen. Die Schatten wurden länger und es wurde schwierig zu sehen, was da draußen vor sich ging. Dann sah ich, wie Großvater seinen Arm neben Marcella ans Gartenhaus lehnte und sich zu ihr herunterbeugte. Marcella lachte und duckte sich weg, unter seinem Arm hindurch, und verschwand um die Ecke hinter das Gartenhaus. Großvater folgte ihr. Ich bin noch ein wenig stehen geblieben und habe gewartet, dass sie wieder auftauchen, aber sie blieben hinter der Hütte verborgen. Ich bin dann wieder ins Bett gegangen.
Am nächsten Morgen war Marcella verschwunden.
Sie war einfach weg. Auch alle ihre Sachen waren weg, es gab keine Mitteilung, keinen Brief, nichts. Großmutter ist dann zur Polizei gegangen, und als Marcella verschwunden blieb und sie auch weder bei ihrer Familie in Spanien noch bei Verwandten oder Freunden aufgetaucht war, kam die Polizei ins Haus und wir wurden alle verhört und mussten unsere Aussagen machen. Ich habe nichts gesagt. Ich konnte nichts sagen. Der Verdacht, Großvater könnte etwas damit zu tun haben, legte sich wie eine Faust um mein kleines Herz. Und je länger ich über das nachdachte, was ich gesehen hatte, war ich mir nicht mehr sicher, ob ich es wirklich gesehen hatte, oder ob das alles nur ein Traum gewesen war.
Nach diesem Sommer wollte ich nicht mehr zu meinen Großeltern. Meine Eltern dachten wohl, es sei wegen Marcella. Mein Verdacht hat mich seitdem begleitet, wie ein Schatten, der immer da ist. Ich bin meinem Großvater aus dem Weg gegangen, all die Jahre. Niemand konnte das verstehen, und ich konnte es niemandem erklären.
Jetzt hat man Marcella gefunden. Man hat sie gefunden auf dem Nachbargrundstück, wo es früher ein kleines Wäldchen gab und wo jetzt gebaut werden sollte. Man hat ihre Knochen gefunden und einige Gegenstände, die ihr gehört hatten. Die Zeitung rollte die Geschichte von damals auf, ihr plötzliches Verschwinden, die vergebliche Suche.
Großvater ein Mörder? Mein Großvater ein Mörder! Nach zwei schlaflosen Nächten entschied ich: Ich muss zur Polizei gehen, ich muss eine Aussage machen. Oder besser doch nicht, es war bestimmt nur ein Traum damals…
Und dann ein paar Tage später ein weiterer Zeitungsbericht: Die Polizei hatte den Täter. Es war ein Taxifahrer, der Marcella damals spätabends an einer Bushaltestelle im Dorf angesprochen hatte, wo sie mit ihrer Tasche saß und nicht wegkam. Sie hatte wohl entschieden, einfach zu gehen und niemandem etwas zu sagen, hatte ihre Sachen gepackt und sich auf den Weg gemacht.
Großvater kein Mörder. Mein Großvater kein Mörder! Welche Last mir von der Seele wich. Wie erleichtert ich war. Erlöst von dem schlimmen Verdacht. Aber dann kamen neue Gedanken: Warum wollte Marcella so plötzlich weg? Sie würde noch leben, wenn er nicht zudringlich geworden wäre, wenn er es denn tatsächlich war und nicht irgendetwas anderes hinter ihrem plötzlichen Aufbruch damals steckte…
Ich muss mit ihm reden. Ich muss mit Großvater reden, endlich.