Auch-noch-Zettel
Mein Kind meldet „Ich bin fertig.“ und fragt sofort weiter „Darf ich jetzt fernsehen?“.
Fast hätte ich schon „Ja“ gesagt, als mein Blick auf den offen stehenden Schulranzen fällt, aus dem die Ecken einiger, nicht richtig eingehefteter, Blätter heraus stehen.
„Was sind denn das für Zettel?“, frage ich und erhalte die Antwort, dass das „nix Wichtiges“ sei. Auf die Frage, was denn genau „nichts Wichtiges“ wäre, bekomme ich die Information, dass es eben keine „richtigen Hausaufgaben“ sind, sondern nur so „Auch-Noch-Zettel“.
Aha?!
Mit viel Energie stelle ich weitere klärende Fragen. Letztlich kapiere ich, dass „Auch-Noch-Zettel“ Arbeitsblätter sind, mit denen man in der Schule nicht fertig geworden ist und diese Blätter muss man dann, nomen est omen, nach den Hausaufgaben „auch noch“ machen. Mir stellt sich die Frage, warum meine Tochter die „Auch-noch-Blätter“ nicht gemacht hat. Scheinbar eine dumme Frage, denn daran, so erklärt sie mir, bin natürlich ich schuld. Ich habe ja schließlich nur gesagt „Mach deine Hausaufgaben“ und sonst nichts. Da konnte sie doch nicht darauf kommen, dass ich damit ebenfalls die „Auch-noch-Blätter“ meine.
Auf Grund dieser gelungenen Verteidigungsrede suche ich nicht weiter nach dem Warum und bestehe nur darauf, dass jetzt eben diese Blätter „auch noch“ nachgeholt werden. Eine Anforderung, die mich nicht wirklich beliebter macht.
Eine halbe Stunde später sitzt mein Kind immer noch vor einem leeren Blatt Papier. Ich frage nach, warum noch nichts passiert ist. Was wieder eine blöde Frage ist. Es müsste mir doch klar sein, dass man zum Schreiben Stifte braucht und heute wollte meine Tochter eben gerne mit dem goldenen Buntschrift schreiben und der musste erst gesucht werden.
So weit so gut. Nur liegt doch vor ihr ein goldener, dicker Buntstift. Wo kann jetzt das Problem liegen?
Ja, das war so, erklärt man mir: Erst hatte sie den goldenen Stift gesucht und auch gefunden. Aber leider war dieser ungespitzt und so musste sie logischerweise den Spitzer suchen. Dieser war voll und musste geleert werden. Danach stellte sie fest, dass es ein Spitzer für „Dünnies“ und nicht für „Dickies“ war, so dass sie nun eigentlich einen anderen Spitzer hätte suchen müssen, wenn ihr nicht glücklicherweise eingefallen wäre, dass sie ja nun in der dritten Klasse ist und sowieso mit Füller schreiben muss. Dieser Argumentationskette konnte ich zwar gerade noch folgen, mir ist allerdings nicht klar, warum das Kind immer noch untätig vor dem Papier sitzt. Mit Engelsgeduld beantwortet sie meine Frage. Es wäre so, dass sie im Moment nachdenken würde und zwar darüber, wo sie denn jetzt am besten den Füller sucht.
Ich zeige auf einen Füller, den ich im Mäppchen sehen kann, aber der ist falsch, erklärt man mir. Heute soll es der pinkfarbene Füller mit Blümchen sein, der, den ihr die Tante zu Ostern geschenkt hat und der vermutlich irgendwo in ihrem Zimmer sein muss.
Als dummer Erwachsener glaube ich nicht, dass man einen Füller finden kann, indem man am Tisch sitzt und nachdenkt. Außerdem fange ich langsam an zu köcheln und werde ernst: „Du bleibst jetzt hier an diesem Tisch sitzen, nimmst den Füller, der da ist und stehst erst wieder auf, wenn wenigstens eine der Aufgaben erledigt ist!“
Nun erfahre ich, dass das Kind ungemeinen Durst hat und man dehydriert nicht denken kann und vielleicht sogar ganz schnell stirbt. Ich schwanke zwischen der Begeisterung, dass mein Wunderkind dehydriert sagen kann und einem mittelprächtigen Wutanfall.
Ein paar Minuten später, wird mir erklärt, dass man auch nicht arbeiten kann, wenn man gaaanz dringend auf die Toilette muss und dass Frau Knapp-Wallenstein außerdem gesagt hat, dass alle Kinder heutzutage zu wenig Bewegung hätten. Das wäre ein wirklich ernstes Problem, denn schließlich würden ja extra deshalb in der Schule Laufdiktate gemacht. Weshalb doch eigentlich nichts dagegen sprechen würde, wenn man für die „Auch-noch-Blätter“ so zwischen Fernseher und Esstisch hin und her pendeln würde. Ganz abgesehen davon, dass man so die Werbepausen sinnvoll nutzen könnte.
Ich kapituliere. Ich stoße die Worte „Fernsehverbot“ und „Computerverbot“ aus und flüchte aus dem Zimmer, bevor ich noch unsittlichere Worte benütze oder sonst irgendwie austicke. Vermutlich ruft mein Kind jetzt gerade beim Kinderschutzbund an und erkundigt sich, ob sie ein Recht auf Medienfreiheit hat. Soll sie! Das ist mir gerade völlig egal.
Ich bin in die oberen Etagen geflüchtet und mache mich voller Elan an die Hausarbeit. Was bin ich dankbar, dass sich die Wäsche widerspruchslos in die Waschmaschine stecken lässt, der Besen nicht zur Toilette muss und das Dampfbügeleisen so gar nicht dehydriert aussieht.