Stine
Es war nur ein klitzekleiner Moment, in dem er Stines Busen sah.
Stine von Berndorff, die einzigartige, wunderbare Stine.
Sie hielt ein Referat in der Klasse 9c über das Auswildern von Wölfen in Slowenien oder in Russland oder in Australien.
Sie stand an der Tafel, schaute aus dem Erdgeschosszimmer kurz nach rechts und zischte „Du elendes Schwein!“
Gleichzeitig fiel ihr die Kreide aus der Hand. Als sie sich bückte, um die Kreide aufzuheben, konnte er ihre Brust sehen. Johannes wurde schwindlig, sein Mund trocken.
In der 9c gab es nur zwei Mädchen.
Julia Sommer, die stotternde mit der roten Brille und Stine von Berndorff, das schönste Mädchen der Welt. Die, die immer mit den älteren Jungs im Pausenhof rauchte und vom Chauffeur abgeholt wurde. Die, die jeden um den Finger wickeln konnte. Die, die für jede Werbung hätte Model sein können.
„Hey, hast du das auch gesehen?“, fragte er Nils, seinen besten Freund neben ihm.
„Was denn?“
„Na den Busen von Stine!“
„Nö, hab nicht aufgepasst“.
Als Stine, während des Referats, kurz aus dem Fenster sah, küsste ihr aktueller Lover gerade ein Mädchen auf den Mund. Es sah nach Zunge aus.
Nach der Schule nahm Johannes all seinen Mut zusammen, vergaß den großen Pickel auf seiner Oberlippe und auch die vielen kleinen Pickel auf der Stirn und sagte zu Stine: „Ich habe deine Brust gesehen heute – sieht echt lecker aus.“
„Soso, lecker, was weißt du denn, Du Wurm. Aber warte, ich mache dir einen Vorschlag, Du darfst mich küssen, wenn du eine Prüfung bestehst.“
„Was soll ich tun?“
„Verprügle diesen Typ aus der 11a, er heißt Marcel – kennst du ihn?“
„Ja klar, der große Kerl, der mit dem Motorrad zur Schule kommt. Dieser Typ mit der Lederjacke, meinst du den?“
„Ja, genau den meine ich. Den verprügelst du, dann kannst du meine Brüste anfassen, mein süßer Kleiner.“
Es war ein wahnwitziges Vorhaben. Es war klar, Johannes würde der große Verlierer sein. Er würde vor der ganzen Klasse, nein, vor der ganzen Schule als hoffnungsloser Trottel dastehen. Ein Träumer, der sich in der Hoffnung Stines Brüste zu berühren, ein blaues Auge abholte. Nicht auszudenken, mit welchen Verletzungen er noch zu rechnen hätte.
Was tun?
Hier war dieses Versprechen, Stines Brüste anfassen zu dürfen und da war dieser rücksichtslose Marcel, ein Schlägertyp, humorlos, gewalttätig, aggressiv und bärenstark.
Es folgten furchtbare Tage und noch schlimmere Nächte für Johannes. In den Nächten träumte er von gebrochenen Nasen, eingeschlagenen Zähnen und blutigen Ohren. Er träumte von Nierentreffern und zertrümmerten Kniescheiben. Er sah sich am Boden liegend, vor Schmerzen krümmend und dieser Fiesling dachte nicht daran, endlich von ihm zu lassen.
Schweißgebadet wachte er auf, diesen riesenhaften Marcel vor Augen, wie er ihm, mit einem fiesen Grinsen im Gesicht, die schlimmsten körperlichen Schmerzen zufügte.
Es gab keine Hoffnung, nein diese Sache konnte niemals gut enden.
Am dritten dieser schrecklichen Tage, die ja doch immer auch ein Versprechen in sich trugen, zeichnete er gedankenverloren ein Portrait von Stine.
Ihre schön geschwungenen Lippen wurden plötzlich durch kleine Veränderungen zu schmalen Strichen. Die Oberlippe eine kaum noch wahrnehmbare Linie, die Unterlippe dafür etwas dicker. Die Mundwinkel noch ein wenig an den Seiten nach unten gezogen. Sie sah aus, wie eine böse alte Frau.
Er kritzelte ein wenig an den Augenbrauen herum, hier ein Tupfer, da noch einer, und schon schien da ein dicker dunkler Balken aus Augenbrauen über Stines Stirn zu prangen.
Jetzt noch die schmale Nase ein wenig verbreitern, die Nasenspitze rundlich zeichnen und ja, dann noch einen Höcker auf die Nase tupfen. Fertig.
Die Ohren, unbedingt die Ohren überarbeiten. Es machte ihm richtig Spaß, dieses Gesicht zu verändern. Leicht abstehende Ohren teilten die Haare wie einen Vorhang. Böse Augen hätte er ihr noch verpassen können, aber es war schon egal.
Ein Gesicht, wie dieses war hässlich, unsympathisch und sicher niemals wert, sich deswegen verprügeln zu lassen.
Auch dann nicht, wenn die Brüste zu diesem Gesicht wunderschön wären.
Nein, wer war er denn, sich wie ein Dummkopf zu benehmen und tagelang darüber nachzudenken, wie er jemandem die Fäuste ins Gesicht und in den Körper rammen würde.
Ihm würde sicher in seinem zukünftigen Leben nochmal eine ähnliche Gelegenheit winken, die mit Bestimmtheit weniger gefährlich werden würde.
Mit vierzehn Jahren war er immer noch am Anfang einer vielversprechenden Zeit.
Nein, Stine und ihre Brüste, das war für ihn für immer erledigt. Aus. Vorbei.
Wie gut er sich plötzlich fühlte, leicht wie der Wind war er, das Leben wartete auf ihn und er würde es zu nehmen wissen, wenn die Gelegenheit sich ergab.
Viele Jahre später:
Als Johannes die neuen Visitenkarten für seine Frau aus der Druckerei abholte, musste er schmunzelnd an diese Geschichte denken. Auf den Visitenkarten stand:
Prof. Dr. Julia Sommer
Ästhetische Chirurgie – Brustverschönerung Sprechzeiten nach Vereinbarung