Einfach weitergefahren
(Protokoll einer Tonbandaufzeichnung / Vernehmung von Karl P. am 5.4.2022 im Landesgericht Klagenfurt)
„Ich weiß auch nicht, warum ich einfach weitergefahren bin.
Es war ja ein ganz normaler Morgen und die Arbeit macht mir eigentlich auch Spaß. Die Kinder sind doch meistens ganz nett, obwohl…ich bin mir nicht sicher, ob sie überhaupt wissen, ob das ein Mann oder eine Frau hinterm Steuer ist.
Ich meine, sie schauen einem ja nicht mehr ins Gesicht, sondern nur mehr auf ihr Kastl in der Hand.
Egal, wie ich also die erste Haltestelle anfahre, Sie wissen schon, die in St. Donat, da hab ich plötzlich das Gefühl gehabt, als ob meine Beine und meine Hände nicht mehr zu mir gehören. Verstehen Sie, die machten einfach alles ganz alleine, der Fuß gab Gas und die Hände drehten das Lenkrad in eine andere Richtung.
Auf einmal war ich aus dem Ort draußen, auf der Landstraße, die ich sonst mit dem Schulbus gar nicht fahre.
Ich hab gar nicht gewusst, wohin ich jetzt soll, also bin ich immer weiter geradeaus auf dieser Landstraße gefahren.
Sie müssen wissen, Autofahren war immer das, was ich am liebsten gemacht habe. Und schon als Kind wusste ich, dass ich Busfahrer werden will. So ganz alleine hoch droben sitzen und niemand ist da, der mir was vorschreibt. Ich bin keiner, der in einem Büro glücklich wäre und zu viele Menschen sind auch nichts für mich.
Plötzlich hab ich an meine Frau denken müssen, die ist ja ungefähr vor einem Jahr abgehauen. Ich hab das irgendwie schon verstanden, ist ja kein besonders familienfreundlicher Beruf, das Busfahren. Nie zu Hause, wenig Geld und immer müde. Sie ist dann nach Slowenien zurück, wo sie hergekommen ist und hat auch schon einen gefunden, der ihr mehr bieten kann.
Aber die hat immer gesagt, ich wäre ‚langweilig‘ und nicht ‚verrückt genug‘, und da hab ich gedacht, wenn sie mich jetzt sehen könnte, dann würde sie das vielleicht nicht mehr sagen.
Ich hab dann überlegt, wie es wäre, wenn ich einfach ins Ausland fahren würde. Kärnten ist ja ‚das Tor zum Süden‘, wie die Politiker immer sagen. Ich hätte in knappen zwei Stunden entweder in Slowenien oder in Italien am Meer sein können.
Oder, wenn ich nach Westen gefahren wäre, über Salzburg, in Deutschland.
Ich hab aber nicht gewusst, was ich dort tun soll. Ich kenne keinen Jugo oder Italiener. Ein Cousin von mir lebt in Deutschland, aber ich weiß nicht genau, wo.
Ich kenne überhaupt kaum jemanden aus meiner Familie. Mein Papa hat immer gesagt ‚Verwandtschaft ist wie Fußpilz, den kriegst auch nicht mehr los‘.
Und meine Mama hat immer Angst gehabt, dass es bei uns nicht fein genug ist für die Onkel und Tanten.
‚Wir sind einfache Leute‘ hat sie gesagt, und wenn wir mal im Wirtshaus was trinken waren, hat sie sich immer an den hintersten Tisch gesetzt.
Sie hat gemeint, in der Mitte und am Fenster sitzen die ‚feineren Leute‘.
Sie ist auch ihr ganzes Leben nie aus Kärnten rausgekommen.
Ein Lied vom Udo Jürgens war plötzlich in meinem Kopf, der ist ja auch ganz in der Nähe hier geboren, in Ottmanach. ‚Ich war noch niemals in New York‘ heißt das.
Ich wüsste nicht, was ich in New York sollte, auch nicht ‚auf Hawaii‘ und ich will auch nicht mit ‚zerrissenen Jeans durch San Francisco‘ rennen.
Ich meine, ich war mein Leben lang ordentlich angezogen, da hab ich immer drauf geschaut.
Aber dann ist mir rechtzeitig eingefallen, dass es für Busse an der Grenze nach Süden jetzt ganz scharfe Kontrollen gibt. Wegen der Flüchtlinge.
Obwohl, das wird wahrscheinlich mehr bei der Einreise kontrolliert. Wenn ich irgendwelche Illegalen mit rausnehmen würde, wären sie hier wahrscheinlich froh.
Ich bin dann einfach immer weitergefahren, und auf einmal hab ich das Schild gesehen: ‚Moosebauer Teich‘. Da bin ich dann scharf links abgebogen, weil, den kenn ich.
Da bin ich als Bub oft mit meiner Mama gewesen, damals, als sie noch gelebt hat.Wir haben gebadet und in der Sonne gelegen und sie hat mir gezeigt, wie man mit einem Grashalm zwischen den beiden Daumen Vogelstimmen nachmachen kann.
Dann hat sie mir erzählt, dass das Wasser in dem Teich eine Mischung aus Moor und Gletscherwasser ist, also sehr gesund und klar. Vielleicht hätte ich ihr, als es ihr dann so schlecht ging, was von dem Wasser bringen sollen.
Ich hab den Bus ganz nah am Wasser geparkt, bin auf den Steg hinaus und hab die bloßen Füße ins Wasser getan.
Und wie ich so allein dagesessen bin und wie es so still gewesen ist, da ist mir die Nacht eingefallen, in der die Mama gestorben ist. Grad, als ich geschlafen habe, obwohl sie mir versprochen hatte, dass sie auf mich wartet, wenn es soweit ist.
Der Papa hat mich in der Früh geweckt, und als ich sie im Bett liegen gesehen hab, war sie schon tot. Sie hat so schön ausgesehen. Wahrscheinlich, weil sie keine Schmerzen mehr gehabt hat.
Als sie sie später abgeholt haben, da hab ich ganz laut geschrien und die Männer vom Bestattungsamt gegen die Knie getreten. Mein Gott, ich war sechs Jahre alt, da versteht man das halt noch nicht so.
Ich kann mich auch nicht erinnern, dass ich hinterher irgendwann einmal geweint hab. Ich weine überhaupt selten, eigentlich nie, wenn ich jetzt so nachdenke.
Aber gestern, wie ich da am Moosebauer Teich gesessen bin, da hab ich plötzlich losgeheult.
Wie ein kleines Kind. Ich konnt überhaupt nicht mehr aufhören.
Ich weiß auch nicht, was da mit mir los war. Da sitz ich mit meinen zweiundvierzig Jahren um acht Uhr in der Früh an einem Teich und heul Rotz und Wasser. Und vorher fahr ich mit dem Bus davon und lass die Kinder an der Straße stehen.
Irgendwann bin ich dann wieder in den Bus rein und zurückgefahren. In der nächsten Ortschaft ist mir ja dann schon das Polizeiauto entgegengekommen.
Sie müssen mir glauben, ich hab das eigentlich gar nicht gewollt, das ist einfach so mit mir passiert.
Es tut mir wirklich leid und ich werde für den Schaden, falls einer entstanden ist, auch aufkommen.“