Parasit
Marie sah stumm geradeaus. Ihre Blicke fuhren über den fast nackten Körper. Die vorstehenden Knochen an Hüften und Schultern sah sie nicht. In ihrer Realität gab es von allem zu viel. Zu viel Bauch, zu viel Bein, zu viel Po. Das einst seidig braune Haar hing ihr glanzlos vom Kopf. Die Augen wirkten stumpf, das frühere Strahlen war nicht mehr sichtbar. Für ihre 19 Jahre wirkte ihr Gesicht vorgealtert und eingefallen.
Jeden Abend wiederholte sie ihr Ritual, starrte unentwegt in den Spiegel, prägte sich ihre vermeintlichen Fehler ein. Sie verabscheute sich dafür, nicht perfekt zu sein, sich nicht schön finden zu können. Meist folgte darauf eine unruhige Nacht, unterbrochen von Gedanken, nicht so zu sein, wie sie sein wollte, wie sie eigentlich sein sollte. Die Krankheit hatte sich in ihr eingenistet, wie ein Parasit, der immer mehr von ihr auffraß. Oftmals fand sie sich nachts am Medikamentenschrank wieder, wenn der Weg in den Schlaf durch Gedanken versperrt war oder sie sich selbst in ihren Träumen verfolgte.
Nicht einmal Jacob konnte ihr dann helfen. Nur noch selten gelang es ihm, sie von seiner Liebe zu überzeugen und genug Kraft aufzuwenden, es immer wieder zu versuchen.
Er konnte kaum mehr mit ansehen, wie sie immer weniger wurde und zu verschwinden drohte. Das gemeinsame Essen war jeden Tag ein Kampf. Oft endete es im Streit. Eine Klinikeinweisung hing drohend über der Beziehung und zerrte an ihr, wie ein Sturm an den Ästen einer zarten Birke.
Marie hatte begonnen, mehrere Lagen von Kleidung zu tragen, um ihren Körper zu verstecken. Nackt hatte sie sich Jacob schon lange nicht gezeigt. Manchmal aß sie ihm zuliebe, nur um anschließend zu laufen, bis ihr schwarz vor Augen wurde. Das passierte inzwischen immer schneller. Ihre frühere Runde schaffte sie schon lange nicht mehr.
Auch Jacob hatte kaum noch Kraft. Doch er war noch nicht bereit Marie aufzugeben. Sie brauchte jemanden, der für sie kämpfte, wenn sie selbst es nicht mehr konnte.
Eines Morgens, als Marie gerade aufstehen wollte, konnten ihre dürren Beine sie nicht länger tragen. Marie sackte zusammen und hatte das Gefühl, kaum noch Luft zu bekommen. Schwarze Schatten schoben sich wie Wolken in ihr Sichtfeld. Jacob eilte zu ihr, ihren Kopf auf seinem Schoß wählte er den Notruf.
Als Marie erwachte, fand sie sich in einem kahlen Raum wieder. Durch einen Schlauch, der mit einer Nadel in ihrer Hand befestigt war, tropfte eine klare Flüssigkeit. Als sie realisierte, dass sie in der Klinik war, begann sie zu schreien. Sie riss die Kanüle aus ihrer Hand, Blut tropfte auf den Boden und bildete einen dunklen See. Marie versuchte aufzustehen, doch ihre Beine versagten ihr noch immer den Dienst, sie fiel. Sie würden ihr alles kaputt machen, sie zwingen zu essen, sie mästen.
Weiß gekleidete Gestalten betraten ungefragt ihr Zimmer und brachten sie zurück in das Krankenbett. Sie war nicht krank, sie wurde nur nicht verstanden. Der Parasit in ihr tobte. Erneut begann Marie zu schreien, schlug nach den Händen, die sie festhielten und ihr vermeintlich helfen wollten. „Wir wollen doch nur, dass es dir gut geht“, hörte sie jemanden sagen. Sie waren alle zu einer weißen Wolke verschmolzen.
Die nächsten Tage liefen an Marie vorbei, als wäre sie selbst gar nicht anwesend. Sie erinnerte sich noch an einen Richter, der erlaubte, dass man sie weiterhin festhielt und ihr flüssige Nahrung durch die Nase in den Körper pumpte. Der Rest verlief wie hinter einem Vorhang aus Nebel.
Nach dem Nebel folgte die Therapie. Gruppensitzungen, Einzelgespräche, erzwungene Mahlzeiten. Marie machte alles mit, die Nasensonde wurde nicht mehr gebraucht. Sie wusste, dass sie ohne Gewichtszunahme nicht entlassen wurde, deshalb aß sie. Doch trat sie abends noch immer vor den Spiegel und hoffte, dass das neue Gewicht nicht sichtbar war.
Als Jacob sie endlich besuchen durfte, gingen sie raus. Der Himmel war wolkenverhangen und der Wind wehte kräftig über die Felder, die hinter der Klinik lagen. Marie spürte ihn auf ihrem Körper, hörte das Rascheln der vom Wind gepeitschten Pflanzen. Sie fühlte sich lebendig. Und doch war ihr ständiger Begleiter und das Gefühl, nicht gut genug zu sein, immer bei ihr.
„Ich bin dein Windbrecher“, sagte sie plötzlich und stemmte sich gegen die Böen.
Jacob blickte sie an. Besorgnis wich einem Schmunzeln. „Du bist zu schmal für einen Windbrecher. An dir geht doch alles vorbei. Was glaubst du, warum ich deine Hand halte?“ Sein Griff wurde fester. „Ich habe Angst, dass der Wind dich mir davonweht.“
Ein Lächeln schlich sich in ihr Gesicht. In diesem Augenblick erlaubte Marie sich, ihm zu glauben, sich von seiner Liebe umhüllen zu lassen, wie von einer warmen Decke. Sie fühlte sich für einen Moment geborgen und frei.
Zurück in der Klinik stellte sie sich nicht vor den Spiegel. Die Gedanken an die weitere Behandlung, das Essen und das tägliche Wiegen schob sie davon. Sie ignorierte an diesem Abend das stetige Nagen des Parasiten und dachte nur an Jacob.