Schreibblockaden
„Draußen wehten Sturmböen und rissen die Blätter von den Bäumen. Der erste Vorbote des Herbsts wütete, als würde er die Hoffnung auf einen milden Winter im Keim ersticken wollen. Unbändig schlug die Brandung in meterhohen Wellen gegen die Klippen, auf denen sich die schäbigen Hütten des Fischerdorfes ängstlich aneinanderdrängten. Das Rascheln und Heulen des Windes vermischte sich mit der gespenstischen Musik, die aus dem alten Schiffswrack zu ihr herüberschwebte.
Quendolia nahm ihren ganzen Mut zusammen. Welche Wahl hatte sie denn auch schon? Zaghaft klopfte sie an die muschelbedeckte Schiffswand. Nichts. Bis auf das Toben der Naturgewalten herrschte absolute Stille. Quendolia schloss die Augen und atmete tief durch. Entschlossen...“
Lautes Geschrei ertönt aus dem Kinderzimmer. Irritiert hebe ich den Kopf. Es dauert nur kurz, bis ich weiß, worum es dieses Mal schon wieder geht. Mit schriller Stimme fordert der Jüngste seine große Schwester dazu auf, jetzt ihn am Nintendo spielen zu lassen. Die will aber nicht.
Vor dem Haus schlägt eine Autotür zu. Lauter, als nötig gewesen wäre. Plärrend klirrt aus einer Freisprechanlage ein privates Telefongespräch zu mir ins Zimmer. Offensichtlich hat irgendeine Tante Henrietta Fußpilz. Die Nagelpflegerin empfiehlt ein Mittel aus der Apotheke.
Plötzlich steht der Kleine neben mir und bettelt darum, ein neues Nintendospiel zu bekommen. Theatralisch bricht er in Tränen aus. Nur mit einem neuen Spiel kann er es seiner fiesen Schwester heimzahlen. Dann darf die nie damit spielen, bis es ihr leid tut, dass sie ihn nicht hat mitspielen lassen.
Die kalte Sturmluft scheint aus dem Schreibblock entkommen zu sein und weht jetzt durch mein offenes Fenster. Sie zaust an meinem Haar. Es ist eine gute Ablenkung von der Frustration, die sich so langsam in mir breit macht. Seufzend starre ich auf den Block vor mir mit den wenigen Worten, die ich hinkritzeln konnte, bevor mich mein Alltag eingeholt hat. Ich versuche krampfhaft, das jammernde Kind auszublenden und wieder einzutauchen in die Geschichte von Quendolia. Es ist hoffnungslos.
Eine besonders heftige Windböe drückt das Fenster weiter auf, erfasst das Schreibpapier und beginnt, darin zu blättern. Seite um Seite huschen die leeren Blätter vorwurfsvoll durch mein Sichtfeld. Ich sitze reglos da und beobachte, wie mein Stift langsam vom Schreibtisch rollt. Lautlos landet er auf dem grauen Teppichboden. Das Gequengel hätte aber wahrscheinlich eh jedes andere Geräusch erstickt, selbst wenn er mit hellem Glockengeläut auf dem Boden aufgeschlagen wäre.
Ich schließe die Augen, streiche mir eine lose Haarsträhne aus dem Gesicht. Heute wird es wohl wieder nichts mit Schreiben. Seufzend klappe ich den Block zu.
„Ich rede mal mit ihr“, verspreche ich.
„Nee, jetzt mag ich gar nicht mehr! Ich will ein neues Spiel!“, erklingt die wenig überraschende Antwort.
Trotzdem gehe ich rüber zum Kinderzimmer und klopfe an. Die Große, schon fast ein Teenager und mitten in der Pubertät, öffnet. Ich komme nicht einmal dazu, etwas zu sagen. Sofort verdreht sie die Augen und knallt die Tür wieder zu.
Meine Hände ballen sich zusammen, mein Herz beginnt, viel zu schnell zu schlagen. Ich kann beinahe spüren, wie der Zorn in jede Pore tritt und sich meine Zähne immer fester aneinanderpressen. Heute nicht!, denke ich und strecke die Hand nach der Türklinke aus. Mitten in der Bewegung erstarre ich. Laute Musik schallt mir durch das Holz entgegen. Vor meinem inneren Auge entfaltet sich die Vorschau dessen, was passieren wird, wenn ich die Tür aufmache.
„Ich möchte mit dir reden!“, würde ich rufen. Eine Reaktion bekäme ich nicht.
„Hey! Mach mal leiser!“, würde ich es noch einmal versuchen, diesmal lauter. Weil ich schreien muss, klänge es ziemlich unfreundlich.
„Was willst du?!“ Der typische Teenie-Tonfall, eine Mischung aus Empörung, Gereiztheit und Zickigkeit, ließe in mir den Ärger noch mehr hochschießen. Und die Musik? Die wäre natürlich noch kein bisschen leiser.
Das alles wegen eines Streits, für den sich schon längst niemand mehr interessiert?
Ich schüttle den Kopf. „Nein, heute nicht“, sage ich zu mir selbst. Ich laufe in die Küche. Grinsend hole ich mir das Eis, das ich heute als Überraschungsnachtisch besorgt habe. Mir ist klar, dass die beiden nicht wissen, dass ich sie bestraft habe. Aber ich weiß es. Ich hole mir einen Löffel. Morgen lasse ich Quendolia nicht zaghaft, sondern wütend gegen die Schiffswand klopfen. Sollen sich ruhig alle vor ihr in Acht nehmen, wenn sie sich ihr in den Weg stellen!