Die Vogelscheuche
Es war totenstill, als Joshua aus seinem alten Opel Kadett stieg. Die Luft stand und die gefühlte Temperatur lag weit über der 30-Grad-Marke. Bei dieser Hitze hatten nicht einmal die Vögel Lust zu zwitschern. Es war als hielte die ganze Welt den Atem an. Selbst die Gedanken flossen träge wie durch zähen Sirup.
Das Geräusch der zuschlagenden Fahrertür durchschnitt die Stille und hallte unnatürlich laut auf dem Hof. Die Schweißperlen auf Joshuas Stirn glitzerten in der Sonne, als er seine Umgebung genauer betrachtete. War er hier überhaupt richtig? Der ganze Hof sah verlassen aus, die meisten Pflanzen waren vertrocknet.
Joshua seufzte. Die ganze Sache war ihm von Anfang an nicht geheuer gewesen. Es war schon ungewöhnlich genug, dass jemand von den Alteingesessenen explizit nach ihm als Seelsorger verlangte. Die meisten Leute wollten lieber mit Pfarrer Braun sprechen, der schon seit 43 Jahren in der Gemeinde tätig war.
Auch der Weg hier ins Nirgendwo über immer unwegsamer werdende Straßen war abenteuerlich gewesen.
Je weiter er in den Wald vorgedrungen war, umso stärker war sein flaues Gefühl in der Magengegend geworden.
Irgendetwas stimmte hier nicht, und trotz der Hitze bekam er eine Gänsehaut.
Vielleicht war das alles nur ein Scherz? Das würde er jedoch nur auf eine Art herausfinden.
„Komm schon“, sagte er zu sich selbst und ging auf die Haustür zu. Es gab keine Klingel, also klopfte Joshua zaghaft.
„Hallo?“
Keine Antwort. Joshua klopfte nochmal, diesmal ein wenig energischer. Er lauschte. Das Geräusch hallte aus dem Inneren des Hauses wieder, so als würden die Schallwellen nur auf leeren Raum treffen. Seltsam.
„Hallo?Hier ist Joshua Schiefer!“
Hatte er dort im Augenwinkel nicht eine Bewegung wahrgenommen? Nein, er musste sich getäuscht haben. Ratlos zuckte er mit den Schultern. Vielleicht war jemand im Garten? Vorsichtig ging er an der Hauswand entlang in die Richtung, in der er bei seiner Ankunft ein paar Beete gesehen hatte. An mehreren Stellen blätterte der graue Putz bereits von der Hauswand und Joshua stolperte beinahe über einen heruntergefallenen Fensterladen, der einmal grün gewesen sein musste. Hier sollte wirklich jemand wohnen?
Als Joshua den Garten erreichte, blieb er wie angewurzelt stehen. Seine Knie wurden weich. Mitten im Gemüsebeet stand sie. Die Vogelscheuche aus seinen Alpträumen. Wie konnte das sein? Er war doch noch nie hier gewesen, oder?
Seit seiner Kindheit verfolgte ihn immer der gleiche Traum. Sein Bruder Jamie und er spielten auf einem Feld, bis sie schließlich bei einer - nein, bei dieser! - Vogelscheuche ankamen. Viele Raben saßen auf ihr und blickten die Kinder ausdruckslos an. Joshua und Jamie warfen Steine nach ihnen. Auf einmal erhoben sich die Raben, packten Jamie mit ihren Krallen und trugen ihn davon. Joshua blieb allein zurück.
An dieser Stelle wachte er jedes Mal schweißgebadet und mit einem Schrei auf den Lippen auf. Und nun stand diese Vogelscheuche hier, der Kopf aus einem alten Fußball, darauf ein Strohhut mit einem blauen Band und ein altes rotes Karohemd als Körper um die Holzstangen geschlungen. Was hatte das zu bedeuten? Joshua blickte sich um, konnte aber immer noch niemanden entdecken.
Wie hypnotisiert ging er Schritt für Schritt auf die Vogelscheuche zu. Es kümmerte ihn nicht, dass er dabei mitten durch das Gemüsebeet lief. Da steckte etwas in der Brusttasche des Hemds. Vorsichtig zog Joshua es heraus. Es war ein zerknittertes Foto. Seine Hände zitterten, als er es auffaltete. Ein Schrei entfloh seiner Kehle und er taumelte, als er die beiden Kinder erkannte, die dort beim Spielen zu sehen waren. Das Foto stammte aus einer längst vergessenen Zeit. Tränen traten ihm in die Augen, gleichzeitig spürte er eine Furcht in sich aufsteigen, wie er sie seit Jahren nicht mehr gespürt hatte.
Er war wirklich gekommen. Maria konnte es kaum glauben. Mit Tränen in den Augen betrachtete sie den jungen Mann, der in ihrem Gemüsebeet stand. Noch hatte er sie nicht entdeckt, zu sehr war er mit dem Foto beschäftigt. Die Haare waren ein wenig dunkler als früher, aber offensichtlich immer noch genauso schwer zu bändigen. Wie würde er reagieren, wenn er sie sah? Würde er sich erinnern? Und was würde das für sie bedeuten? Schluss damit, sie war es den beiden schuldig. Jetzt wo der Tumor in ihrer Bauchspeicheldrüse wuchs und wuchs und die Metastasen sich in ihrem Körper ausgebreitet hatten, blieb ihr nicht mehr viel Zeit. Entschlossen trat sie aus dem Schatten des Apfelbaums.
„Hallo Joshua, schön, dich wiederzusehen.“
Erschrocken drehte Joshua sich um und erstarrte.
„Maria“, flüsterte er.
Die Erinnerungen brachen wie ein Tsunami über ihn herein. Er war schon einmal hier gewesen. Jamie. Die Vogelscheuche. Plötzlich war alles wieder da. Er sah seinen Bruder in dem Beet stehen, in der Dämmerung. Scham flutete brennend durch seinen Körper. Es war seine Schuld gewesen. Oh mein Gott. Hans, Marias Mann, hatte seinen Bruder an ein Holzkreuz gebunden, dabei hätte er dort stehen müssen. Schließlich war es sein Fußball gewesen, der die Vogelscheuche umgeschmissen und auf die frischen Salatsetzlinge hatte fallen lassen. Sein Fußball, der jetzt durchbohrt von einem Holzpflock als Kopf der Vogelscheuche diente. Doch Jamie hatte die Schuld auf sich genommen. Sein großer Bruder. Eine ganze Nacht hatte er dort ausharren müssen. Joshua hörte immer noch die Schreie seinen Bruders, als er sich gegen die Krähen zur Wehr setzte. Am Morgen war er zerkratzt und voller blauer Flecken gewesen und hatte tagelang nicht mehr gesprochen. Wie hatte er das vergessen können?
Maria hatte die ganze Zeit neben ihm gestanden und ihn beobachtet. Joshua fühlte sich, als sei alle Kraft aus seinem Körper gewichen. „Warum?“, fragte er.
Erst jetzt betrachtete er Maria genauer. Die Zeit hatte ihr zugesetzt, ihr Gesicht sah aus wie eine Trockenpflaume und sie stand gebückt.
„Es tut mir so leid, Joshua.“ Maria sah ehrlich bekümmert aus. Tränen schimmerten in ihren Augenwinkeln.
Joshua wusste nicht, was er fühlen sollte, in ihm tobte ein Sturm und lähmte sein logisches Denken.
„Hans ist tot, Joshua. Ich wusste nicht, was mit Jamie passiert ist, bis ich vor ein paar Wochen ein Gespräch deiner Tante beim Arzt belauscht habe. Keiner weiß, wieso ausgerechnet Vögel bei ihm diese psychotischen Schübe auslösen. Da wurde mir klar, dass ihr beide das, was hier passiert ist, verdrängt haben müsst. Ich musste dich also hierher holen, damit du dich erinnerst. Nur so kannst du Jamie helfen und ich vielleicht ein bisschen meiner Schuld wieder gut machen.“ Joshua wich zurück, als sie einen Schritt auf ihn zumachte.
„Joshua, es tut mir so leid. Ich war schwach und hatte genau wie ihr Angst vor Hans. Wenn es dir irgendwie hilft, er ist einen elenden Tod gestorben.“
Langsam drehte sich Joshua um und betrachtete die Vogelscheuche erneut. Wie konnte er das alles nur vergessen haben? Er spürte, wie Maria ihre Hand auf seinen Arm legte. Sie fühlte sich heiß an und rau wie Schmirgelpapier.
Fast widerwillig blickte er zu der kleinen Frau hinunter, die sein Leben in wenigen Minuten zum Einsturz gebracht hatte. Zu ihren Füßen stand ein roter Benzinkanister. Maria nickte ihm zu, drehte sich um und ging ohne ein weiteres Wort zurück zu dem Haus, das nach dem Tod seiner Eltern für kurze Zeit auch sein zu Hause gewesen war.
Joshua trat durch die Tür des alten Hauses zurück ins Freie. Sein Auto stand noch genauso da, wie er es vor ein paar Stunden verlassen hatte. Und doch hatte sich alles geändert. Der Himmel hatte sich verdunkelt und der Wind wirbelte den Staub der letzten Tage auf. In der Ferne grollte der Donner.
Die ersten Regentropfen des lang ersehnten Gewitters platschten vor ihm auf den Hof und mischten sich mit seinen Tränen. Er blickte noch einmal zurück und sah die Überreste der verkokelten Vogelscheuche. Der Regen würde das übrige Feuer sicher löschen. Joshua mochte Gewitter. Es fühlte sich an, als ob der Sturm in seinem Inneren sich in diesem Gewitter entladen würde. Der Gedanke hatte etwas Tröstliches und Joshua musste unwillkürlich lächeln.
Würde er mit diesem Wissen leben können? Er würde es müssen. Jamie. Wieder blickte er auf das alte Foto in seinen Händen und noch während er zum Auto ging, öffnete er die Navigations-App seines Handys und gab „Psychiatrische Klinik Neustadt“ ein. Nach so vielen Jahren hatte er nun endlich den Mut, seinen Bruder zu besuchen. Er hoffte, dass sein Bruder ihm verzeihen konnte.
Vielleicht würden sie beide dann endlich Frieden finden.