Mutprobe
„Na los. Worauf wartest Du?“
Mike, eigentlich heißt er Michael, grinst mich herausfordernd an. Erwartungsvolle Blicke sind auf mich gerichtet.
„Der hier ist mir zu langsam“, bluffe ich und schaue ihm direkt in die Augen.
Die Häme in Mikes Gesicht verrät, dass er auf den Vorwand nicht hereinfällt.
Aber er spielt mit.
„OK. Dann warten wir eben auf den ICE.“
Ich wende meinen Blick von den Jungs ab und schaue ostwärts in die Ferne. Dort, wo die Sonne gerade zaghaft aufgeht, liegt der Flughafen mit seinem Tiefbahnhof. Ort und Zeit durfte ich auswählen. Selbst die schnellsten Züge treten ab hier schon auf die Bremse. Und was den Zeitpunkt betrifft, hoffe ich auf ausgeschlafene Lokführer. Ich selbst habe letzte Nacht kaum geschlafen.
Wir schweigen. Außer dem Rattern des Regionalzugs, der sich gemächlich den Schienen nähert, auf denen wir uns alle aufhalten, ist nichts zu hören. Kein Vogelkonzert, kein Fluglärm.
Es war Mike in Person, der auf mich zugekommen war. In seinen Kreisen hält man das für einen Ritterschlag. Von uns drei Klassen-Neuen war Leon die Brillenschlange als Kandidat gleich durchgefallen, Coolness-Faktor im Negativbereich. Vermutlich wusste er nicht mal von seinem Glück. Blieben Max und ich. In Max sehe ich einen würdigen Mitstreiter. Er ist zurückhaltend. Die Etiketten seiner Aldi-Klamotten hat er sorgfältig herausgeschnitten. Ich kenne mich da aus mit den Tricks. Seine Klugheit verbirgt er ganz passabel hinter desinteressierten Sprüchen. Armut ist kein KO-Kriterium für die Bande, solange man das Spielchen der Unnahbarkeit beherrscht. Ein Jammer, dass mir Max sympathisch ist. Im Wettkampf um die Aufnahme bei den „Raufbolden“ gibt es keinen zweiten Platz. Das wissen wir beide.
Das schrille Warnsignal der Lok lässt die Luft über dem Weichenvorfeld erzittern. Max kann ein Zucken nicht unterdrücken und errötet. Gehässiges Lachen bricht aus. Der Zug zieht an uns vorbei. Das Gezuckel wirkt aus der Nähe wie eine Highspeed-Rakete.
Der Lokführer wird uns Jungs sicher bei der Zentrale melden. Viel Zeit ist nicht mehr.
„Ich sehe den ICE!“ In Toms Ausruf höre ich perfide Erregung heraus. Ich wende den Kopf in die andere Richtung. Im blauen Morgendunst sehe ich einen kleinen weißen Punkt, der sich besorgniserregend schnell vergrößert. In der Luft hängt der Duft von frisch befahrenen Eisengleisen und aufgewirbeltem Staub. Ich unterdrücke ein Würgen.
„Mach Dich bereit!“, befiehlt mir Mike in motivierendem Ton, täuschend echt.
Der Punkt ist indessen zu einem fußballgroßen Kreis herangewachsen. Ich weiß, dass ich warten muss, bis er die Größe eines Medizinballs erreicht hat. So lautet die unausgesprochene Regel.
Max wirft mir einen flüchtigen Blick zu, aus dem ich so etwas wie Solidarität erahne. Ich stelle keinen Augenkontakt her. Ich will kein Mitgefühl.
Ein paar Sekunden sind es noch. Ich nehme Stellung an und schaue auf meine nigelnagelneuen Nikes mit Goldstreifen herunter. Mom hat sie mir mit einem strahlenden Lächeln überreicht. „Zum Schulbeginn braucht man etwas Ordentliches.“ Die Schuhe haben sie zwei Doppelschichten gekostet. Aber das ist es ihr Wert, sagt sie immer. Sie spricht es nie aus, aber ich weiß, dass sie mich vor „Hänseleien“ schützen möchte.
Das weiße Leder ist von einer grauen Schicht trockener Erde überzogen. Na toll. Ich sehe schon den enttäuschten Gesichtsausdruck meiner Mutter vor mir. Sie wird es mit einem müden Lächeln überspielen wie immer.
Ich sehe erneut zum ICE hin. Wieder ein warnendes Pfeifen.
„He, pennst Du? Du verpasst Dein Zeitfenster.“, fährt mich Mike an.
Der Lärm schwillt zu einem Dröhnen an. Ich bilde mir den heißen Atem der Lok ein, die angriffsbereit in meine Richtung stürmt.
Jetzt oder nie.
Ich setze für den Sprung an und straffe meine Muskeln. Zwanzig Meter
trennen mich von meiner Heldentat. Durch die Lokscheibe kann ich den entsetzten Gesichtsausdruck der Lokführerin erahnen. Ich kann sogar ihre Haarfarbe erkennen.
Goldblond wie Moms Haare.
Scheiß drauf.
Ich atme auf und trete einen Schritt zurück. Meine Muskeln schmerzen von der gelösten Anspannung. Mein Herz schlägt so laut, dass es den lärmenden Schall des Schnellzuges übertönen muss.
„Ich hab’s mir anders überlegt.“, sage ich mit bewusst gleichgültiger Stimme. „Die Sache ist es nicht wert und außerdem ist mir das Ganze hier zu uncool.“ Geschafft. Ich sehe mich nach der Bande um, dann nach Mike, der mich in einer Mischung aus Unglauben und Verachtung beäugt.
„Ich hab‘ echt nicht geahnt, dass Du ein Schisser bist. Normalerweise täusche ich mich nicht. Eine glatte Sechs, was?“ Die Frage ist an seine Kumpels gerichtet und rein rhetorisch. Die Jungs schauen spöttisch drein, während der ICE brüllend an uns vorbeirauscht.
Ich spüre, wie mein Unterhemd schweißgetränkt an meiner Haut klebt. Seltsamerweise fühlt es sich gut an, so echt. Ich spähe wieder auf Max hinüber, der mir anerkennend zunickt. Diesmal erwidere ich seinen Blick.
„Du hast recht.“, wirft er ein. „Ist ‘ne lahme Nummer hier. Lass‘ uns abhauen.“
Das hat meinem Freund einiges abverlangt.
Heute weiß ich das.