Fans
Bevor ich die Tür öffnen konnte, war das Auto von Paparazzi umstellt. Blitzlichter blendeten mich, während ich versuchte, draußen die Kirche zu erspähen. Ich seufzte und wartete darauf, dass meine beiden Security-Männer sich ihren Weg durch die Menge gekämpft hatten.
Eigentlich hatte ich den beiden heute frei geben wollen. Mit zwei Leibwächtern auf einer Beerdigung aufzukreuzen, war mir unschicklich erschienen, doch mein Manager hatte darauf bestanden – zu Recht, wie mir nun aufging. Nicht zum ersten Mal ärgerte ich mich über diese Reporter-Geier, für die „Schicklichkeit“ wohl ein Fremdwort war. Ich war sowieso schon knapp dran, und dieser Menschenauflauf half mir nicht im Geringsten.
Die Autotür öffnete sich, und einer der beiden Security-Männer – Dave war sein Name, wenn ich mich nicht irrte – hielt mir seine Hand hin.
Ich strich meinen modischen, schwarzen Hosenanzug glatt und ließ meinen Blick über die Traube aus Mikrofonen, Videokameras und Fotografen schweifen, während Dave und sein Kollege mich durch die Menschenmasse in Richtung Kirche eskortierten. Neugierig betrachtete ich die Zahlen auf den Stirnen der Menschen um mich herum, wohlwissend, dass nur ich die Zahlen sehen konnte – auch wenn ich nicht die einzige Berühmtheit war, die diese Fähigkeit besaß.
Die Medien nannten sie „Anhängerfolgen“ oder „Fanzähler“. Dieses Phänomen trat bei mir auf, als ich laut Social Media etwa zehntausend Follower hatte. Wissenschaftlern zufolge erhält jeder Mensch, der sich einer Fanbase anschließt, eine Nummer, die aussagt, der wievielte dieser Fans er ist. Und nur die zugehörige Berühmtheit konnte diese Zahlen sehen.
Anfangs sah ich sie nur bei Managern und Investoren oder auf Fantreffen, doch schon lange verging kein Tag mehr, an dem mir nicht ein Fremder mit einer Zahl auf der Stirn über den Weg lief. So wie heute. Während Fragen und Anschuldigungen der Reporter auf mich einprasselten, zu denen ich doch bitte Stellung beziehen sollte, begutachtete ich die Köpfe der Menschen. #15032020 prangte auf einer Stirn. Wie schön, da hatte ich wohl die 15 Millionen Fans geknackt. Auf einigen Reporterstirnen fehlte jede Spur einer Zahl, und ich verkniff mir ein missbilligendes Kopfschütteln. Sie waren nicht einmal an mir interessiert, sondern nur an der Kohle, die sie an mir und meiner Berühmtheit verdienen konnten. Und dafür störten sie eine Beerdigung? Hatten diese Menschen denn gar keinen Anstand?
Etwas weiter vorne stach mir eine Zahl ins Auge. Sie gehörte einer jungen Reporterin mit einem Mikrofon, die im Gegensatz zu den anderen Paparazzi fast zurückhaltend wirkte. #18053. Ein Fan quasi von Anfang an also, das gefiel mir. Ich gab Dave ein Zeichen, dass er mich in ihre Nähe bringen sollte. Die Augen der Reporterin weiteten sich vor Überraschung, als ich vor ihr stehen blieb und sie anlächelte. Nur nicht zu breit lächeln, erinnerte ich mich in Gedanken, und dazu traurige Augen, wie ich es im Spiegel geübt hatte. Bevor die junge Frau etwas sagen konnte, sprach ich in ihr Mikrofon: „Der Tod meines Vaters ist ein herber Schlag für meine Familie. Ich bitte Sie, in dieser schweren Zeit unsere Privatsphäre zu respektieren, damit wir in aller Ruhe trauern können.“ Die junge Frau nickte eifrig und blickte entschuldigend drein. Sie sagte noch etwas, vielleicht eine Beileidsbekundung oder doch nur irgendeine Reporter-typische Frage, doch ich war schon weitergegangen und verstand ihre Worte nicht.
Ich schritt durch die Kirchentür, dachte an die Reporterin zurück und wunderte mich, wer sich heutzutage alles „Fan“ nennen durfte. Ein wirklicher Fan hätte gewusst, wie egal mir der Tod meines Vaters war. Dass ich keinen Kontakt mehr zu meiner Familie hatte, seit ich vor so vielen Jahren von zuhause fortgerannt war, um mein Glück als Teen-Star zu versuchen. Dass mich die Nachricht um das Ableben dieses Mannes kaum mehr berührt hatte als die Urlaubspostkarte eines Freundes.
Wieso auch? Meine Eltern hatten nie an mich geglaubt oder daran, dass ich gut genug für die große Bühne war. Sie verboten mir, Gesangsstunden zu nehmen, und bestanden darauf, dass ich meinen Schulabschluss machte und studierte. Meine Träume waren ihnen schon immer egal. Ich sollte nur das perfekte Vorzeige-Kind sein, Arzt werden oder Anwalt. Sie sahen immer nur ihre eigenen Wünsche und Ziele in mir, aber meine wirkliche Person interessierte sie nicht.
Sei´s drum. Ich war schon lange nicht mehr verbittert deswegen. Sie hatten mein Talent verkannt, aber ich hatte es trotzdem geschafft. Mein Erfolg war ein Triumph über ihre Unfähigkeit, mich zu unterstützen. Mich zu lieben.
Ich bedeutete meinen Security-Männern, an der Tür zu warten und Acht zu geben, dass keine Paparazzi auf die Idee kamen, mir in die Kirche zu folgen. Dave und sein Kollege schienen wenig von der Idee zu halten, von meiner Seite zu weichen, aber beugten sich meinen Anweisungen, wie sie es immer taten.
Der Pfarrer eilte auf mich zu. Sieh an, #283. Natürlich, er kannte mich schon aus meiner Zeit im Kirchenchor. Schön, dass wenigstens ihm mein Talent damals aufgefallen war. „Willkommen“, begrüßte er mich. „Mein Beileid zu eurem Verlust. Die Trauerfeier soll jeden Moment beginnen, aber nimm dir alle Zeit, die du brauchst. Ein Platz ganz vorne, direkt neben der Witwe, ist für dich reserviert.“
Die Witwe. Es dauerte einen Moment, bis ich verstand, dass er meine Mutter meinte. Ich nickte höflich, und der Pfarrer eilte zur Kanzel zurück.
Erhobenen Hauptes schritt ich den Kirchgang entlang. Auf den Kirchenbänken drängten sich Freunde und Bekannte des Toten. Er war ein beliebter Mann gewesen, fast das ganze Dorf hatte sich versammelt. Einige Leute wandten sich zu mir um oder tuschelten miteinander, wenn ich vorbeiging. Das war ich gewohnt. Was sie wohl flüsterten? War ich für sie das verlorene Kind, das heimkehrte? Oder die treulose Seele, die ihre Familie im Stich gelassen hatte?
Ich sah mich als keins von beidem. Das hier war ein Höflichkeitsbesuch für gute Publicity. Ich fühlte mich den Leuten hier nicht verbunden, weder den Kirchgängern noch dem Toten. Brav und zurückhaltend würde ich die Totenfeier über mich ergehen lassen, vielleicht ein paar Hände schütteln, und so schnell wie möglich wieder gehen.
Unbeirrt lief ich weiter geradeaus. Einige Male entdeckte ich Fan-Zahlen, viele niedrige, #95, sogar #28 bei einer ehemaligen Klassenkameradin, wenn ich mich nicht irrte. Aber keiner diese „Fans“ versuchte, mich anzusprechen. Zum Glück.
Ich blieb vor dem Sarg stehen. Einfaches Holz, nichts Extravagantes, gemacht für einen einfachen Mann. Blumen in allen Farben drohten, den Sarg frühzeitig zu begraben. Ich hatte mich dagegen entschieden, Blumen mitzubringen.
Neben dem Sarg stand ein Foto von ihm, so glaubte ich, auch wenn es mir schwerfiel, ihn nach all den Jahren wiederzuerkennen. Auf dem Foto lächelte er, mit Wärme in seinem Blick – und einer Zahl auf seiner Stirn.
#2.
Ich keuchte auf und taumelte zurück. Mein Magen drehte sich, als hätte mich jemand geschlagen. Nein. Das konnte nicht sein! Irgendjemand hatte sich einen Scherz erlaubt und eine Zahl auf die Fotografie geschmiert. So musste es sein. Mein Vater konnte niemals mein Fan gewesen sein, schon gar nicht so früh in meinem Leben! Er hatte meine Hobbys verflucht, meine Träume nur belächelt, und ich bekam Hausarrest, wenn ich singen übte statt für die Schule zu lernen. Er hatte mir sogar verboten zu singen! Wie soll er da mein Fan gewesen sein?
Und doch sah ich die Zahl, und spürte tief in mir drin, dass es sich nicht um einen Fehler handelte. Erinnerungen schossen durch meinen Kopf, die ich längst vergessen, verdrängt hatte.
Mein Vater, wie er das Radio leiser dreht, um mich besser singen hören zu können.
Mein Vater, der bei der Musicalaufführung meiner Grundschule in der ersten Reihe sitzt und lauter jubelt als alle anderen Eltern.
Mein Vater, der mich vom Gesangsunterricht abmeldet, weil er es sich trotz langer Arbeitszeiten nicht mehr leisten kann. „Warum arbeitest du dann so viel?“, habe ich ihn damals gefragt. „Um für Mama und dich zu sorgen, mein Liebling.“, hat er geantwortet. „Muss ich auch so viel arbeiten, wenn ich mal groß bin?“, habe ich gefragt. Er hat gelacht und mich hochgehoben und durch die Luft gewirbelt. „Nein, Liebling. Wenn du mal groß bist, wirst du es besser haben als wir heute und ganz viel Geld verdienen. Dann kannst du so viel singen, wie du willst.“
Mein Vater, der mich „seinen kleinen Star“ nennt.
Mein Vater, der sich mit mir mal wieder über irgendeine Kleinigkeit streitet, die das Fass zum Überlaufen bringt, und der mir am gleichen Abend vom Fenster aus hinterhersieht, ohne zu wissen, dass er mich niemals wiedersehen würde.
Das Gesicht mit der #2 lächelte mich freundlich an, und Tränen flossen meine Wangen hinunter, als ich mich schluchzend von dem Bild abwendete und meine Mutter erblickte. Sie saß in der ersten Reihe und sah mich an, stumm, ganz in Schwarz, mit zerflossenem Make-Up, und einer leuchtenden #1 auf der Stirn.