Verloren im Licht
Die Luft war frisch, der Boden weich vom nächtlichen Regen.
Ihre Schritte bewegten sich rhythmisch durch das lockere Laub. Es roch nach frischem Gras und feuchtem Holz. Alles wirkte friedlich. Fast zu friedlich.
Milo, ihr brauner Labrador, trottete neben ihr her. Das Schwanzende wippte zufrieden im Takt.
Samstagmorgen. Der Wald. Ihre Routine. Immer dieselbe Zeit, derselbe Pfad.
Doch an diesem Morgen war etwas anders.
Es begann mit Stille.
Kein Vogelruf, kein Insektensummen. Das Rascheln der Blätter verstummte – als hätte jemand den Ton aus der Welt gedreht.
Sarah lief weiter.
Eine Kälte stieg ihr die Beine hinauf.
Dieses Gefühl: Etwas lauerte.
Zwischen den Sträuchern flackerte Bewegung – schemenhaft, nicht greifbar.
Sie blieb stehen.
„Hallo? Ist da jemand?“ Ihre Stimme war kaum mehr als ein Zittern.
Keine Antwort.
Milo stand dicht neben ihr. Die Ohren angespannt nach vorne gekippt.
Dichter Nebel kroch schleichend aus allen Richtungen, verschluckte die Bäume, den Pfad.
Milo knurrte.
Dann – ein Licht. Grell, weiß, unwirklich. Es wirkte nicht bedrohlich. Es rief.
Ihre Beine bewegten sich auf das Licht zu, als würde eine fremde Kraft sie schieben.
„Komm, Milo“, flüsterte sie.
Doch Milo blieb stehen.
Dann bellte er. Laut, scharf – ein Warnruf. Schließlich rannte er los, stoppte, bellte erneut. Ein Appell zur Umkehr.
„Milo!“, rief sie. Doch ihre Stimme verschluckte der Nebel.
Das Licht kam näher.
Ein Teil von ihr wollte hinein.
Komm, flüsterte etwas in ihr. Hier bist du richtig. Hier gehörst du hin.
Ein einziger Gedanke – wie ein Stromschlag.
Und sie wusste: Wenn sie jetzt weiterging, würde sie nie mehr zurückkehren.
Sie riss sich los. Drehte sich um. Rannte.
Der Nebel klammerte sich an ihre Beine, zog an ihr.
Doch mit jedem Schritt wurde er schwächer.
Ein Ast schlug ihr ins Gesicht.
Der metallische Geschmack von Blut auf ihren Lippen trieb sie weiter.
Dann – Geräusche.
Vögel. Wind. Leben.
Sarah stand keuchend am Waldrand. Milo war schon da.
Er winselte, zitterte, leckte ihre Hand – fast so, als wolle er sagen: Du hast es geschafft.
Sie streichelte ihn, aber nicht, um ihn zu beruhigen – sondern sich selbst.
„War das … real?“ flüsterte sie.
Milo bellte. Kurz.
Sie wusste: Ohne ihn hätte das Licht sie verschluckt.
Sie lief weiter. Doch etwas stimmte nicht.
Der Pfad war noch da – aber anders.
Keine rote Bank an der Abzweigung.
Kein alter Holzstapel, der sonst immer dort lag.
Dann stand sie vor ihrem Haus.
Und doch … nicht.
Die Fassade war heller.
Die Türklingel modern – kein kleiner runder Knopf mehr.
Mit zitternder Hand drückte sie auf die Klingel.
Schritte. Die Tür öffnete sich.
Torsten stand da.
Sein Blick ging durch sie hindurch.
Er sah sie nicht.
„Milo?“ rief plötzlich eine Frauenstimme aus dem Hausinneren. „Wo warst du, Schlingel?“
Sarah wich zurück. Alles in ihr schrie, aber kein Laut kam über ihre Lippen.
Die Frau hatte ihr Gesicht.
Ihre Gestalt.
Sarah erstarrte.
Das war sie – und doch nicht.
Die Frau war zu glatt.
Ihr Lächeln: exakt.
Aber seelenlos.
„Milo! Da bist du ja!“
Die falsche Sarah ging in die Hocke.
Milo zögerte. Dann lief er zu ihr, der Schwanz peitschte durch die Luft.
Er leckte ihr Gesicht, als wäre er endlich zu Hause.
Milo hatte sich entschieden. Nicht aus Bosheit – sondern weil er glaubte, die andere sei echt.
Das Licht hatte es perfekt gemacht.
Ihr Leben war ersetzt worden – von einer Lüge, die überzeugender war als die Wahrheit.
Sarahs Herz schrie.
Die Fremde – ihr Ebenbild – hob den Blick.
Für einen Moment trafen sich ihre Augen.
Keine Überraschung. Nur dieser überlegene Blick.
Wie der einer Siegerin.
Ein stilles, kaltes Lächeln. Als hätte sie gewusst, dass dieser Moment kommen würde.
Torsten drehte sich zu ihr. „Alles gut?“, fragte er.
Die Frau nahm Milo an die Leine.
„Ja“, sagte sie. „Ich hab ihn.“
Er lachte – ein Lachen, das sie einst geliebt hatte.
Dann schloss sich die Tür.
Sarah stand da. Allein. Noch immer. Draußen.
In einer Welt, die sie kannte – in der aber kein Platz mehr für sie war.
Und plötzlich wusste sie es.
Der Wald.
Das Licht.
Sie hatte es nie wirklich verlassen.
Sie war im Licht.
Und es hatte sie nicht zurückgebracht.
Sondern nur gezeigt, was sie verloren hatte.
Nicht, um sie zu strafen – sondern um sie loszulösen.
Dies war nie ihre Rückkehr –
es war ihr Abschied.
Sarah schloss die Augen.
Und in der Dunkelheit dahinter wusste sie:
Sie würde nie zurückkehren.
Weil niemand mehr auf sie wartete.
Die Luft um sie flackerte.
Als wäre sie nicht mehr aus Fleisch und Blut – sondern aus Erinnerung.
Aus Nichts.
Aus Licht.
Ein letzter Blick auf die geschlossene Tür.
Und dann brach die Welt lautlos in sich zusammen.
Kein Haus.
Kein Torsten.
Nur noch Licht.
Und Stille.
Dann löste sich Sarah auf. In einem Flimmern. Lautlos.
Als hätte sie nie existiert.
Und hinter dem Fenster, wo einst ihr Leben war, streichelte die andere Frau Milo.
Der wedelte.
Zufrieden.