Damenfianchetto
Als ich aus dem Fenster unseres Kinderzimmers nach draußen blinzele, muss ich im Gegenlicht der letzten Sonnenstrahlen an einen dieser herrlichen Momente denken, in dem etwas ganz Besonderes passiert ist. Etwas, das dem eigenen Leben eine glückliche und positive Wendung gegeben hat.
Meine Gedanken gleiten zwanzig Jahre zurück in das versteckte Hinterhof-Café gleich neben dem alten Rathaus …
Die Figuren dufteten betörend und verführerisch nach Lack und Holz. Die unregelmäßigen Maserungen des dunklen Palisanders kontrastierten perfekt mit der helleren Farbe des Buchsbaums. Die dezenten Lichtquellen an den Wänden spiegelten sich geheimnisvoll auf der matt glänzenden Oberfläche des quadratischen Schachbrettes und offenbarten die fantastische Intarsienarbeit eines unbekannten Künstlers. Als ich die schwarze Dame vorsichtig mit meiner rechten Hand anfasste und anhob, spürte ich das Gewicht der schweren Bleieinlage im Fuß der Figur, was dem von mir ausgeführten Zug einen besonders vornehmen, ja nahezu majestätischen Charakter verlieh. Ich werde nie das kaum zu vernehmende, dumpfe und elegante Geräusch vergessen, als die Königin sich wieder auf das hölzerne Brett senkte und ihre dicke grüne Filzunterlage Kontakt mit dem Zielfeld bekam. Spätestens in diesem Moment war ich dem Schachspiel für immer verfallen. So dachte ich wenigstens.
Als die schweren Gewitterwolken die Oberhand gewinnen und die ersten Regentropfen an die Fensterscheibe klopfen, muss ich auch an einen dieser anderen Momente denken, an den man sich nur mit Schaudern zurückerinnert. Einen Moment, der für immer und ewig mit einer peinlichen Schmach verknüpft sein wird.
Erneut gleiten meine Gedanken zurück in dieses Café, an diesen Schachverein, in dem ich erfolgreicher Spieler, dann Mannschaftsleiter, Jugendtrainer und auch noch Jugendwart wurde. An diesen einen schrecklichen Tag vor nunmehr fast zehn Jahren ...
»Spielen wir eine Partie?«
Ich schaute erstaunt vom Brett auf und lauschte dem Nachklingen dieser seidenweichen Stimme, die mir eine Gänsehaut über den Rücken jagte. Als ich in die grünlich schimmernden Augen der jungen Frau blickte, verschlug es mir dermaßen die Sprache, dass ich lediglich ein stummes Nicken zustande brachte. Erst jetzt bemerkte ich ihre makellose Figur, die sie in eine hautenge schwarze Jeans und ein nicht minder figurbetontes T-Shirt mit schwarz-rotem Karomuster gezwängt hatte.
»Ich heiße Maria und bin Anfängerin«, raunte sie mir entgegen und setzte sich an meinen Tisch, wobei sie ihre langen schwarzen Haare mit einer gekonnten Kopfbewegung nach hinten warf.
Mein Herz pochte inzwischen mit doppelter Geschwindigkeit und deshalb entging mir wohl auch dieses verschmitzte Lächeln, das sie mir mit ihren strahlend weißen Zähnen entgegenwarf.
»Kein Problem, Maria, jeder fängt mal an«, brachte ich ein wenig überheblich hervor. Ich stellte die rechts neben mir stehende Schachuhr ein, rückte meine weißen Figuren zurecht und los ging die Partie.
Wir eröffneten mit einem Flankenspiel, dem Damenfianchetto. Nachdem meine Gegnerin ein inkorrektes Bauernopfer gespielt hatte und ich ihren Königsflügel durch eine Opferwendung aufreißen konnte, stand ich bereits total auf Gewinn. Dann kam mein unbedachter Bauernschlagzug auf die Grundreihe und das noch zweifelhaftere Damenmanöver, durch das ich meinen Vorteil bereits komplett aus der Hand gab. Schließlich spielte ich diesen schicksalhaften Läuferausfall, den Maria mit einem überraschenden Bauernzug konterte, der meine Stellung komplett aus den Angeln hob.
Ich versteifte innerlich und bemerkte erstmals die anderen Spieler und Gäste, die sich nach und nach um unseren Tisch versammelt hatten, darunter die Kinder meiner Jugendgruppe und deren Eltern. Ich spürte ihre zunächst ungläubigen, dann spöttischen Gesichter, als sie meine wachsende Unruhe und die horrende Zeitnot bemerkten, in die ich mich mittlerweile manövriert hatte.
Ich erntete hämische Blicke meiner Vereinskollegen, als immer klarer wurde, dass die Schwarzhaarige mich nach allen Regeln der Kunst auseinandernahm. Die mitleidsvollen Augen des gesamten Cafés lagen auf mir, als meine Gedankengänge immer zäher wurden, meine Gegenwehr schließlich erlahmte und ich irgendwann nach mir endlos erscheinenden, quälenden Minuten frustriert meine Hand zur Aufgabe über den Tisch reichte.
Verloren gegen eine blutige Anfängerin! Und dann auch noch gegen eine Frau! Vor allen anderen. Wie peinlich!
Seit diesem schicksalhaften Tag habe ich nie wieder eine Wettkampfpartie gespielt, habe nie wieder eine Nachwuchsgruppe trainiert und bin irgendwann ganz aus dem Verein ausgetreten. Nie wieder habe ich seitdem eine Schachfigur in die Hand genommen.
Wie eng können das Schöne und das Grausame doch miteinander verknüpft sein, denke ich. Dann reißt mich der Ruf aus der Küche aus meinen Gedanken.
»Das Essen ist fertig!«, ertönt die Stimme meiner Frau. Ich sehe die Kinder den Flur entlanglaufen und mache mich ebenfalls auf den Weg.
»Alles klar, wir kommen, Maria!«