Per Anhalter
Zitternd streckte Jenny den Daumen nach oben, als endlich ein Wagen die Straße entlangfuhr. Das Auto kam ein paar Meter weiter zum Stehen. Sie eilte dem Golf entgegen. Der Weg entlang der Straße war vom Regen matschig, und mit jedem Schritt lief Jenny Gefahr, den Halt in ihren High Heels zu verlieren.
Ein glatzköpfiger Mann, den sie auf Mitte vierzig schätzte, streckte trotz des prasselnden Regens den Kopf aus dem Fenster.
„Willst du mitfahren?“, rief er.
„Fahren Sie in Richtung Haberhausen?“, fragte Jenny.
„Ja, steig ein“, rief der Mann und winkte sie herbei, bevor er das Fenster wieder hochfuhr.
Als sie auf die Beifahrertür zusteuerte, fielen ihr die warnenden Worte ihrer Mutter ein. Steig nie zu Fremden ins Auto! Nie hatte sie vorgehabt, genau das zu tun und bei einem unbekannten Mann mitzufahren. In Gedanken antwortete sie ihrer Mutter: Was soll ich denn machen, wenn Alex mich aus dem Auto wirft? Der Arsch ist einfach weggefahren! Er hat mir nicht mal mein Handy oder meine Jacke gegeben!
Als sie an dem Auto vorbeiging, prägte sie sich das Kennzeichen ein. Auf der Heckscheibe war ein Aufkleber: Toni an Bord. Ein Familienvater, dachte Jenny und atmete erleichtert durch.
Alle Sorgen waren verflogen, als sie auf dem Beifahrersitz platznahm. Sie spürte, wie die warme Luft aus den Lüftungsventilen die Gänsehaut auf ihren Armen verdrängte. Es roch nach dem Zitronenduft des Lufterfrischers.
Der Mann war ordentlich angezogen und wirkte freundlich. Langsam fuhr er los. Er drückte einen Knopf auf dem Armaturenbrett. Jenny zuckte zusammen, als ein lautes Klacken von den Türen die Stille durchbrach. Sie blickte sich mit aufgerissenen Augen um.
„Sorry, falls dich das erschreckt hat. Ich habe nur die Türen verriegelt“, antwortete er und lächelte sie schelmisch an. „Sag mal, wie alt bist du?“
„Ähm, achtzehn“, antwortete Jenny zögerlich und fügte ihrem richtigen Alter zwei Jahre hinzu.
„Wie kommt es, dass du hier auf der Straße gestrandet bist?“
Jenny rückte auf dem Sitz hin und her. Sie blickte nach draußen und versuchte, sich zu orientieren.
„Ich habe mich … mit einer Freundin gestritten. Sie ist ohne mich weggefahren.“
„Und das bei dem Wetter? Ganz schön mies“, sagte der Fremde und lachte leise vor sich hin. „Hast du einen Freund?“
Die Frage ließ sie erstarren. Sie antwortete nicht.
Da! Die Kapelle kannte sie. Sie zeigte mit dem Finger auf das rechte Fenster. „Hey! Hätten wir hier nicht abbiegen müssen?“
„Geht nicht. Die Straße ist gesperrt. Bei dem Unwetter ist ein Baum umgefallen und liegengeblieben. Und? Hast du nun einen Freund?“, hakte der Mann erneut nach.
Sie merkte, wie er sie von ihren blonden Haaren über die durchnässte pinkfarbene Bluse bis hin zu ihrem kurzen Rock begutachtete.
„Ja!“, sagte sie schließlich trotzig.
„Seid ihr schon lange ein Paar?“
„Wieso wollen Sie das wissen?“
„Hey, schon gut. Ich will mich ja nur unterhalten.“
„Nun gut. Wie alt ist Ihr Sohn?“
„Häh? Ich habe keinen Sohn. Wie kommst du darauf?“
„An Ihrem Auto steht hinten Toni an Bord. Ist das nicht Ihr Sohn?“ Sie blickte ihm intensiv ins Gesicht, in der Hoffnung, aus seiner Reaktion mehr zu erfahren. Sie spürte, wie sich ihr Körper anspannte und ihr Atem kürzer und flacher wurde.
„Ach so. Das Auto ist nur geliehen. Toni ist mein Neffe. Er ist zwei“, antwortete der Mann und kicherte leise vor sich hin.
Obwohl sich ihr Körper in dem Auto gut aufgewärmt hatte, ließ das leise Lachen des Mannes ein Schaudern ihren Rücken hinunterfahren.
Sie fuhren durch einen kleinen Ort, dessen Straßen nur spärlich beleuchtet waren. Die Häuser waren dunkel. Alle schienen zu schlafen. Jenny blickte auf die Uhr am Armaturenbrett. Kurz vor halb eins.
„Und, gehst du noch zur Schule?“
Was soll diese Fragerei, hätte sie gern geantwortet. Sie schwieg. Als die Stille unangenehm wurde, fingen ihre Augen eine Bewegung ein. An dem letzten Haus vor dem Ende des Ortes stieg ein Mann aus einem Auto. Kurzentschlossen ließ sie das Fenster herunter und winkte dem Unbekannten mit einer ausladenden Geste zu.
„Hallo, Onkel Markus!“
Der Mann machte bestimmt ein verdutztes Gesicht, aber zum Glück konnte man das in der Dunkelheit nicht sehen. Aber dennoch ging die Hand des Mannes hoch, als sie an ihm vorbeifuhren.
„Das ist mein Onkel. Er ist bei der Polizei. Im Herbst fange ich dort auch meine Ausbildung an. Es ist echt spannend, wie die Polizei auch nur bei kleinsten Hinweisen eine Spur aufnehmen kann. Mein Onkel macht gerade eine Profiler-Schulung. Das ist echt superspannend.“
„Wo musst du noch mal genau hin?“
„Haberhausen. Sie können mich bei der Kirche rauslassen.“
„Seit einigen Jahren trainiert er mich auch in Selbstverteidigung. Wenn mich jetzt jemand anfasst, knall ich ihn einfach zu Boden.“
Der Regen ließ nach und sie erkannte, wie sie sich ihrem Ziel näherte. Kurz darauf gelangten sie in ihrem Dorf an.
„Danke fürs Mitnehmen!“, sagte Jenny, während sie das Auto des Mannes verließ. Innerlich dankte sie ihrem imaginären Polizistenonkel, der sie gerettet hatte, ohne es zu wissen.