Heimkehr
Es war eine düstere Novembernacht und ich war allein Zuhause. Der Hund hatte schon ein paar Mal angeschlagen, als er gegen Mitternacht endlich Ruhe gab. Ich wälzte mich noch eine Weile hin und her, hörte das alte Haus ächzen und knarren und war gerade eingeschlafen, als ich spürte, dass es ganz hell im Zimmer geworden war. Ich öffnete die Augen und sah ein Mädchen, nicht älter als sechs Jahre. Es stand mitten im Schlafzimmer und sah mich mit weit aufgerissenen Augen an, als sei ich diejenige, die ohne Vorwarnung in ihrem Zimmer erschienen war. Es war blass und ausgemergelt, seine Kleidung hing lose an seinem Körper herab und schien an manchen Stellen dunkel verfärbt zu sein.
Ich schnappte erschrocken nach Luft und richtete mich mit einem Ruck im Bett auf.
Wie war es hier reingekommen?
Ich war mir sicher, dass ich gestern Abend abgeschlossen hatte. Außerdem lag das Haus sehr abgelegen. Es gab keine direkten Nachbarn und es führte auch keine Straße am Haus vorbei. Die Zufahrt endete in einer Sackgasse.
„Wer bist du?“, hörte ich da ein Flüstern ganz nah bei mir.
Ich zuckte zusammen. Das Mädchen stand jetzt direkt neben meinem Bett und musterte mich neugierig. Erst aus der Nähe fiel mir auf, dass es von einem seltsamen rosa-violetten Schimmer umgeben war, als wäre die Luft um es herum elektrisch aufgeladen.
Wer ich bin? Wer bist du? Oder vielmehr, was bist du?
Ich streckte die Hand nach ihm aus, zögerte dann aber.
Was, wenn es real war und ich es berühren konnte?
Und was, wenn nicht?
Bumm!
Mein Blick huschte zur Tür. Irgendwo im Haus war wohl ein Fensterflügel aufgegangen und schlug jetzt in einem durchdringenden Staccato auf und zu.
Ich spürte eine federleichte Berührung an meiner Hand und im selben Moment stürzten eine Vielzahl an Bildern und Emotionen auf mich ein.
Eine Gestalt, die sich über mich beugt, eine dunkle Kammer mit einer fleckigen Matratze, hämische Worte und Gelächter, ein kalter Windhauch auf meiner Haut, eine silberne Klinge, die im Schein einer einzelnen nackten Glühbirne aufblitzt.
Wie ein Karussell drehten sich die Bilder in meinem Kopf, schneller und immer schneller, bis ich völlig die Orientierung verlor und nicht mehr wusste, wo ich war, wer ich war. Ich kannte nur noch Schmerz und Leid und Hoffnungslosigkeit.
Dann war plötzlich alles vorbei.
Mühsam versuchte ich, wieder zu Atem zu kommen. Das Mädchen stand noch immer vor mir. Tränen liefen ihm über die Wangen und ich stellte fest, dass auch meine Wangen nass waren.
„Ich will nach Hause“, sagte es und seine Stimme brach. „Bring mich nach Hause.“
Wo ist dein Zuhause? Wer ist der Mann mit dem Messer? Warum tut er dir so etwas Schreckliches an? Wo sind deine Eltern? Warum bist du ganz alleine?
Noch ehe ich eine der Fragen stellen konnte, wurde es wieder ganz hell im Zimmer. Ich hielt mir schützend die Hände vor die Augen. Als ich sie wieder wegnahm, war das Mädchen verschwunden.
Wo bist du?
Am nächsten Morgen war ich noch immer aufgewühlt. Das Mädchen war nicht mehr zurückgekehrt, obwohl ich jeden Moment damit gerechnet hatte. An Schlaf war nicht mehr zu denken gewesen. Ich war die ganze Nacht wach gelegen und hatte an die Decke gestarrt. Irgendwann hatte ich es nicht mehr im Bett ausgehalten, war aufgestanden und im Haus auf und ab getigert. Jetzt, Stunden später, gingen mir noch immer dieselben Fragen durch den Kopf.
Sollte ich jemandem davon erzählen?
Würde mir überhaupt jemand glauben?
Ich schüttelte den Kopf. Hätte ich es nicht selbst erlebt, selbst gesehen und gespürt, ich würde es auch nicht glauben.
Was also sollte ich tun?
Mit einer Tasse Kaffee in der Hand, stellte ich mich ans Fenster und schaute nach draußen, wo der Morgen langsam graute.
Da! Am Waldrand! War das nicht…?
Ich stellte meine Tasse so hastig ab, dass ein Schluck Kaffee überschwappte, griff nach meinem Mantel, schlüpfte in meine Stiefel und eilte nach draußen. Der Hund fing an zu bellen, doch ich hatte nur Augen für die schimmernde Gestalt vor mir und folgte ihr in den Wald.
Ich stolperte über Wurzeln und Steine, zerkratzte mir das Gesicht am Geäst, doch ich lief immer weiter.
Ich durfte sie nicht aus den Augen verlieren!
Irgendwann hatte ich jegliches Zeitgefühl verloren, wusste nicht mehr, wie lange und wie weit ich schon gelaufen war. So tief war ich noch nie in den Wald vorgedrungen und auch kein Wanderer würde sich je hierher verirren.
Ich erreichte eine kleine Lichtung und kam keuchend zum Stehen. Auf der gegenüberliegenden Seite stand eine Hütte, deren Fenster mit Brettern vernagelt war. Sie strahlte etwas Finsteres, Bedrohliches aus und unwillkürlich schlang ich meine Arme um mich. Erst jetzt fiel mir auf, wie still es war. Selbst den Wind konnte man hier nicht mehr heulen hören.
„Dort“, sagte das Mädchen, das plötzlich wieder direkt neben mir aufgetaucht war. Es deutete auf eine Stelle ein paar Meter neben der Hütte. Langsam ging ich darauf zu. Dann begann ich mit beiden Händen vorsichtig zu graben.
***
Ich beobachtete das schwarzgekleidete Paar aus einiger Entfernung. Er hatte seinen Arm um sie gelegt und sie lehnte sich an ihn. Ihre Schultern bebten. Ich wusste, dass die Polizei ihnen von mir erzählt hatte, hatte mich bisher aber nicht getraut, auf die beiden zuzugehen und mit ihnen zu sprechen. Wahrscheinlich war es sowieso besser, wenn ich sie in Ruhe trauern ließ. Sie hatten die letzten Tage und Wochen schon genug durchgemacht.
Der Pfarrer begann mit seiner Ansprache. Ich konnte nicht verstehen, was er sagte. Es musste schwierig sein, in einer solchen Situation die richtigen Worte zu finden.
Meine Gedanken schweiften ab, zurück zu jenem Tag. Die Polizei war nach meinem Anruf schnell mit zwei Kollegen vor Ort gewesen. Als sie sahen, was ich entdeckt hatte, forderten sie umgehend Verstärkung an. Ich wurde lange verhört und in die Mangel genommen. Kein Wunder, bei meiner Erzählung. Doch schließlich hatten sie mich gehen lassen. Ich hatte das weitere Geschehen dann in den Nachrichten verfolgt, die Presse hatte sich wie ein Geier auf den Fall gestürzt und bis heute beinahe täglich über den Fortgang der Ermittlungen berichtet. Leider hatte man den Täter bis heute nicht geschnappt. Er war noch immer auf freiem Fuß.
Die Musik setzte ein und vier Männer traten vor, um den Sarg in die Erde zu lassen. Ich bekam einen Kloß im Hals.
„Danke“, hörte ich da eine Stimme leise flüstern, „danke, dass du mich nach Hause zu meinen Eltern gebracht hast.“