Eine böse Vorahnung
Maya drückte ihre kleine Schwester an sich, strich ihr mit einer Hand über den Kopf und redete leise auf sie ein. Dabei bemerkte sie die Wunde an Lias Schläfe, aus der langsam aber stetig Blut sickerte. Das sah gar nicht gut aus. Selbst mit ihren zwölf Jahren wusste Maya, dass solch eine Wunde vermutlich genäht werden musste. Arme Lia.
„Ich bring dich nach Hause“, sagte sie. Sie stand auf und zog Lia gleich mit auf die Füße. Erst jetzt fiel ihr Blick auf die anderen Kinder. Die beiden Jungen sahen zwar geschockt aus und das Mädchen hatte sogar leicht feuchte Augen, aber im Großen und Ganzen wirkten sie gefasst.
Ich habe ihren Eltern versprochen, auf sie aufzupassen. Sie müssen also mit uns zurück, dachte sie, doch noch bevor sie es aussprechen konnte, kam ihr Jonas, der älteste Junge, zuvor.
„Wir wollen noch nicht nach Hause. Bitte, können wir hierbleiben? Unsere Eltern sind ohnehin noch bei der Arbeit.“
„Ja, bitte!“, stiegen nun auch die beiden Jüngeren mit ein.
Maya zögerte. Ich habe die Verantwortung für sie, da kann ich sie doch nicht hierlassen. Was, wenn etwas passiert? Was, wenn sie von der ‚bösen Frau‘ geholt werden?
Aber die traurigen Blicke und flehenden Worte überzeugten sie schließlich doch.
„Also schön“, sagte sie möglichst streng, indem sie den Ton ihrer Mutter nachahmte, „aber ihr passt auf und macht keinen Unsinn. Jonas hat das Sagen, während ich weg bin, verstanden?“
Die Drei nickten begeistert und Jonas grinste frech, als plante er bereits, wie er die anderen herumkommandieren könnte.
Mit jedem Schritt, den sich die beiden Schwestern vom Spielplatz im Wald entfernten, bereute Maya ihre Entscheidung mehr. Lauf schneller, sonst holt dich die böse Frau, hallten die Worte, die sich die Kinder oft beim Spielen zuriefen, in ihrem Kopf wieder. Plötzlich fühlten sie sich sehr real an. Am liebsten wäre sie umgekehrt, doch sie musste Lia so schnell wie möglich nach Hause bringen. Hinter ihr erklang nun wieder dumpfes Kinderlachen.
Es geht ihnen gut, mach dir nicht so viele Gedanken.
Sie liefen so schnell, wie Lia es in ihrem wackligen Zustand konnte und erreichten den heruntergekommenen Wohnblock, in dem sie mit ihrer Mutter wohnten, nur Minuten später. Maya drückte die Eingangstür, die schon seit Wochen schief in der Angel hing, auf, und sie eilten den langen Flur entlang zu ihrer Wohnung. Maya klingelte ungeduldig und wartete. Hoffentlich schlief ihre Mutter nicht.
Eine gefühlte Ewigkeit verging. Schließlich erklangen schlurfende Schritte und dann das Ratschen des Riegels an der Tür. Verschlafen blinzelte ihre Mutter ins Licht, wirkte jedoch sofort wach, als sie die Verletzung ihrer Tochter sah. Die Krankenschwester in ihr übernahm und begann Lias Wunde zu begutachten.
Maya bekam das nur vage mit. Sie reagierte kaum, als ihre Mutter sie ausfragte, denn mit ihren Gedanken war sie bereits wieder auf dem Spielplatz. Sie hatte so ein ungutes Gefühl. Sie sollte sofort zurück.
„I-ich muss los“, stammelte sie, und ohne eine Antwort abzuwarten, eilte sie davon. Um ihre Schwester brauchte sie sich nun keine Sorgen mehr zu machen.
Den Weg bis zum Waldrand legte Maya im Laufschritt zurück. Dort angekommen, wollte sie gerade den schmalen Kiesweg zum Spielplatz einschlagen, als ihr Blick auf ein rot glänzendes Cabrio fiel. Maya erkannte das Auto sofort. Es gehörte der älteren Dame, die seit einigen Wochen hier mit ihrem Hund spazieren lief.
Nein, nein, nein. Nicht das noch! Was, wenn die Frau wirklich böse war und diese Geschichten über sie, dass sie Kinder entführte und ihnen ihr Lachen stahl, echt waren. Maya rannte los. Äste schlugen ihr ins Gesicht und gegen die Arme und hinterließen brennende Striemen, als sie querfeldein durch den Wald stürmte.
Bitte, lass mich noch rechtzeitig kommen, betete sie zu niemand bestimmten.
Keuchend und vollkommen verschwitzt brach sie durch das Gebüsch auf die Lichtung des Spielplatzes. Erleichterung überrollte sie wie eine Welle, als sie die Kinder auf dem Karussell entdeckte. Sie waren noch da. Es ging ihnen gut.
Maya stützte sich mit den Händen auf den Knien ab und schnappte nach Luft. Erst als sich ihr Atem wieder beruhig hatte, fiel ihr auf, dass es mucksmäuschenstill war. Jonas und die beiden Jüngeren saßen zwar auf dem Karussell, doch es bewegte sich nicht, sondern stand still. Die Drei sahen nicht zu Maya herüber, sondern starten mit leeren Blicken auf den Boden. Kein Ton kam über ihre Lippen. Kein Hallo und erst recht kein Lachen. Maya erstarrte. Ihr Blick glitt über die Lichtung. Eine Gestalt im roten Mantel verschwand gerade in einiger Entfernung hinter einem Baum. Ein leises Kinderlachen ertönte aus ihrer Richtung. Es traf Maya wie ein Schuss in der Stille.