Trennung hoch 2
Früh
Ich lebe zurzeit in doppelter Trennung und das bringt meinen Alltag ziemlich durcheinander, kann ich dir sagen.
„Lena, kommst du runter? In zwei Minuten ist dein Vater da.“
Ma und Paps leben ebenfalls getrennt. Klar. Sie machen gerade ihr Trennungsjahr, drei Monate fehlen noch.
Trennungsjahr kennst du? Oder ist bei dir und deinen Best Friends Friede Freude Eierkuchen mit Ringelpiez angesagt? Alles voll harmonisch?
„Lena, hast du mich gehört?“
Sie leidet ziemlich darunter, meine Ma. Abends schaltet sie oft die Glotze an und dreht megalaut laut auf. Damit wir nicht mitbekommen, dass sie heult. Mir macht sie nichts vor, aber Luisa bemerkt vermutlich nicht mal, dass Ma schon vor dem Abschminken zum Fürchten aussieht.
Paps nimmt es nicht so schwer, denke ich. Den sehe ich allerdings nur einmal in der Woche, wenn er mich zur Schule fährt. Und doppelt getrennt bin ich auch wirklich keine Väterversteherin.
„Lena!“
„Ey, lass mich einfach in Ruhe, okay!“
Da, jetzt kommt Trennung zwei ins Spiel.
Hast du gehört? Ja?
Die erste Trennung ist schon echt kacke, aber im Vergleich zur zweiten eigentlich kein Ding. Die zweite Trennung ist das eigentliche, unendlich größere Problem. Denn die läuft in mir drin. Deswegen gibt’s auch kein Trennungsjahr. Das wäre hilfreich, ist aber nicht umsetzbar.
Verstehst du nicht?
Verstehe ich!
Pass auf: Seit einem halben Jahr macht mein Körper was er will.
Immer.
Was ich will, macht er nie.
Ich habe den Verdacht, dass er das, was ich will, schon deshalb nicht will, weil ich es will.
Kapierst du‘s jetzt?
Nee?
Paps glaubt, es ist die Trennung (was zwar falsch, aber auch sehr richtig ist), Luisa meint, ich sei die dämlichste Schwester der Welt und Frau Stein empfiehlt mir einen Besuch beim Psycho-Doc. Ich denke, dass sie zur Lehrernachhilfe müsste, aber ich schweife ab.
Ma sagt, es ist die Pubertät und ich hoffe sie hat Recht.
Hier einige Beispiele, damit du verstehst, was bei mir gewaltig schief läuft. Bei mir und DYSTO, denn so heißt mein Problem. Hab ich gegoogelt. „Ich-dyston“ ist man, wenn man seine Emotionen, Gedanken oder Impulse als störend und nicht zu sich gehörend erlebt. Seit ich das weiß, ist es nicht besser, aber mein Trennungs-Ich hat einen Namen. DYSTO.
Stell dir also vor, meine Ma ruft, ich solle runter kommen, weil Paps gleich da ist. Ihre Stimme klingt zittrig. Nicht schön, wenn dein Kind zu deinem Fast-Ex-Mann ins Auto steigt. Ich möchte zu ihr gehen, sie in den Arm nehmen und ihr etwas Nettes ins Ohr flüstern.
DYSTO will das nicht. DYSTO ist das scheißegal. DYSTO ruft: „Ey, lass mich einfach in Ruhe, okay!“, knallt die Tür und bleibt im Zimmer. Und weil DYSTO die Macht hat, hocke ich auf meinem Bett, fühle mich wie der letzte Loser und warte, bis DYSTO sich einkriegt.
Oder stell dir vor, ich soll ein Referat über „Die Leiden des jungen Werther“ halten. Nicht mein Hobby, klar, aber das Buch ist okay. Also will ich mich gestern Abend an meinen Schreibtisch setzen, um den großen Auftritt vorzubereiten.
DYSTO nicht. DYSTO bleibt im Bett und guckt TikTok … TikTok bis zwei Uhr nachts.
Heute früh ist DYSTO zu spät aufgestanden, hat sich nicht geschminkt, nicht mal die zwei Pickel auf meiner Stirn abgedeckt und ist zum Auto geschlurft.
Danach
DYSTO rotzt den Vortrag hin. Frau Stein ist ein Totalausfall, aber dass sie DYSTO zum Kotzen findet, macht sie fast sympathisch. Und die Vier Minus ist echt fair.
„Weil du immerhin wusstest, dass Werther auf der Wiese lag. Auch wenn er dort philosophiert und kein Gras geraucht hat.“
Danke Frau Stein! Danke für nichts, DYSTO!
Verstehst du jetzt? DYSTO hat die Kontrolle übernommen. DYSTO ruiniert mein Leben. Und ich habe keine Ahnung, was ich dagegen tun kann.
Später
„Boah, das war echt Glück mit der Vier Minus.“ Martha ist bestimmt nur noch meine Freundin, weil sie auch nicht ganz sie selbst ist. Aber sie mit meinem Ich-DYSTO nach ihrem Du-Dysto zu fragen, habe ich bisher nicht geschafft.
DYSTO ist nämlich auch das scheißegal.
„Hm“, nuschelt er, ohne von meinem Handy hochzuschauen.
„Komm, lass uns noch was machen, ist doch erst halb sechs.“ Martha zieht mich in Richtung Straße. „Los, zum Sportplatz. Luci hat Training.“
Luci.
Luci heißt natürlich Lukas, Lukas Leue, macht dieses Jahr Abi und ist der coolste Typ der Schule. Hast du auch jemand, bei dem du Schmetterlinge in den Knien und einen wackeligen Bauch bekommst? Oder andersrum?
Dann kapierst du immerhin das mit Luci.
Luci ist Stürmer in der A-Jugend bei Post SV. Trainiert dienstags und donnerstags ab sechs. Er ist der Beste. Optisch zu 150 % und sportlich bestimmt auch. Nicht dass ich Ahnung von Fußball hätte, aber er muss einfach der Beste sein.
Wir waren schon mal im Kino, kurz vor DYSTO. Haben einen schlechten Film gesehen und zu salziges Popcorn gegessen. Saßen nebeneinander, Hand auf Knie und es fühlte sich verdammt gut an. Zum Abschied hätte ich gern und inzwischen denke ich, dass Luci auch gern hätte, haben wir aber nicht.
Kommst du noch mit?
„Ja, gute Idee“, antwortet DYSTO und ich stutze. Macht er gerade, was ich will?
Aber nein, natürlich nicht. Pickel wie Vulkankrater, du erinnerst dich? Nicht abgedeckt. Und überhaupt: DYSTO bei Luci!
ICH GERATE IN PANIK.
Was immerhin dazu führt, dass DYSTO langsamer läuft. Was Martha nicht mitbekommt, weil sie ununterbrochen redet.
„Wird Zeit, dass Du mit Luci sprichst. Funkstille ist ja mal ok. Aber doch nicht ein halbes Jahr. Der vergisst noch, wer du bist.“
Hey Martha, merkst du was? Das ist nicht deine Freundin, da neben dir! Das ist ein Freak!
Keine Reaktion. Sie plappert und plappert.
Also setze ich wieder bei DYSTO an. Wüte, flehe, drohe, hyperventiliere.
Nichts.
Mein Kopf präsentiert mir mittlerweile Szenen aus „Best of bad future“ in Endlosschleife:
Luci küsst Martha.
Luci sieht DYSTO und rennt schreiend davon.
Luci hält sich mit beiden Händen den Bauch vor Lachen, während er mit der linken Hand auf mich zeigt. Dass er dafür drei Hände bräuchte, macht es nicht weniger absurd.
Luci liegt verletzt auf dem Rasen, während DYSTO lacht.
DYSTO läuft als Flitzer nackt übers Feld.
Luci küsst Martha.
Der Film, der auch mit süßem Popcorn schlecht wäre, läuft und läuft und läuft. Läuft neben Martha und DYSTO her, während ich mich wie ein Raubtier fühle, das im Käfig auf und ab tigert, ohne voranzukommen.
„Na bitte, gerade noch pünktlich“, verkündet Martha. DYSTO lacht. Es klingt wie Schneewittchens böse Stiefmutter.
Die Sportler kommen aus den Kabinen, schlurfen, traben, stolzieren an uns vorbei. Ganz hinten Luci.
Noch einmal versuche ich es mit Telepathie:
Lauf einen Bogen, Luci.
Hinten rum.
Musst du nicht nochmal aufs Klo?
Hast du mal versucht, den Weg mit geschlossenen Augen zu gehen?
Ich habe Erfolg, aber nicht den erhofften. Luci schaut zu uns. Und weil das noch nicht reicht, um es so richtig, richtig zu versauen, joggt er lässig auf uns zu.
„Hi“, sagt Martha.
„Hi“, sagt DYSTO.
„Hallo“, sagt Luci.
Oh mein Gott, denke ich und versinke im Boden, ohne im Boden versinken zu können.
Luci schaut von Martha zu DYSTO und zurück zu Martha. DYSTO wird rot. Ist das meine Schuld?
„Äh“, stottert Martha, „Lena und ich wollen heute zugucken.“ Sie knufft DYSTO in die Seite.
Luci kräuselt die Stirn, wirft noch einen Blick auf DYSTO und fragt dann:
„Lena? Wo ist Lena denn?“
Genau jetzt
Als Lucis Frage mein Gehirn erreicht, fällt mir der Unterkiefer auf die Brust. Was hat er gesagt?
Mit offenem Mund stehe ich da und glotze.
Voll peinlich, denkst du?
Klar, stimmt.
Aber es fühlt sich einfach Hammer an. Denn plötzlich habe ich die Gewalt über meinen Körper.
ICH, NICHT DYSTO.
DYSTO steht neben mir. Sieht aus wie ich, nur mürrischer. Mit zwei fiesen Eiterbeulen auf der Stirn. Ätsch.
Doch das ist nicht alles. Auch neben Luci und Martha stehen Dystos. Wusst‘ ich’s doch.
Der von Luci sieht klein, hilflos und mega angepisst aus. Er hat wohl nicht viel zu melden. Dysto-Martha ist schwabbelig und ein bisschen größer. Aber nichts im Vergleich zu meinem, der wie ein riesiges Rumpelstilzchen auf Speed neben mir herum hüpft – zum Glück im Mute-Modus.
Luci hat die Lage im Griff. Er zeigt in Richtung Fußballplatz und ruft seinem Dysto zu: „Los hau ab, Pubi, dein Training geht los.“ Und zu meinem DYSTO: „Du auch, ab hinterher.“
Dann dreht er sich um und sein Lächeln fliegt auf mich zu. „Da bist du ja wieder. Schön, dich zu sehen, Lena!“
„Ja, ich … oh, ja“, hauche ich, noch ganz außer Übung, als er schon nach meiner Hand greift und mich mit sich zieht.
„Salziges Popcorn wär‘s jetzt“, erklärt er, „aber Pommes tun‘s auch.“
Meine Füße folgen nicht nur ihm, sondern auch meinem Willen – unglaublich, oder? – und tragen mich in die Richtung von Buddys Burger-Bude. Vorbei an Martha, die lächelnd den Daumen in die Höhe reckt, und vorbei an ihrem Dysto, der uns den Stinkefinger zeigt.
Ich laufe.
Und laufe.
Meine Hand in seiner.
Ich schmecke salziges Popcorn?!?
Ich laufe.
Noch ist nicht alles gut.
Noch ist Trennungsjahr.
Aber es wird.
Irgendwann.
Und jetzt: Jetzt ist jetzt.
Gleich werde ich Luci …
ganz sicher … auf jeden Fall …
Ein Schmetterling umtanzt meine Knie.