Der Blumenstrauß
Es ist still. Nur das Ticken der alten Standuhr ist zu hören. Karl sitzt, bekleidet mit seiner verfilzten blauen Wollweste und der blanken braunen Cordhose, in seinem Lieblingssessel im Wohnzimmer. Sein fast kahler Kopf, die verbliebenen Haare mit Frisiercreme drapiert, beugt sich über seine Lieblingslektüre, „Der Spiegel“. Die auf seiner dicken roten Nase sitzende Lesebrille rutscht dabei etwas nach vorn. Doch das bemerkt er nicht.
„Brütest du etwa schon wieder über deinen Zeitschriften?“ Doras zeternde Stimme unterbricht jäh die entspannte Ruhe.
Karl schaut nicht auf. Er liest weiter. Die Küche ist nur durch einen roten Vorhang vom Wohnzimmer getrennt. Wie an jedem Tag um diese Zeit nimmt Dora die Vorbereitungen für das Mittagessen in Angriff. Lautstark macht sie sich im Nebenraum bemerkbar. Das Kochgeschirr klappert, Klagelaute begleiten ihr eifriges Hantieren im Nebenzimmer.
Dora war einmal eine anziehende Frau gewesen und Karl findet sie nach wie vor begehrenswert. Schon damals, beim ersten Blickkontakt, war es um ihn geschehen. Ihre erotische Stimme, die langen braunen Haare, wohlgerundete Körperformen... Ihre Erscheinung nahm ihn so gefangen, dass er der nicht vorhandenen Seelenverwandtschaft nur allzu gern keine Beachtung schenkte. Doch die gegenseitige körperliche Anziehungskraft verlor, zu seinem Bedauern, über die Jahre an Bedeutung. Spätestens nach der Geburt von Klaus, ihrem gemeinsamen Sohn, entzog sie sich ihm zusehends.
Karl liest gern. Politik und Zeitgeschehen haben für ihn einen hohen Stellenwert. Dora hat die Bibel im Religionsunterricht kennengelernt. Andere Bücher kennt sie nicht. Miteinander geredet haben sie im Grunde nie.
Das lautstarke Scheppern von Töpfen aus der Küche reißt Karl aus seinen Erinnerungen.
„Willst du heute wieder den ganzen Tag herumsitzen oder hilfst du mir? Aber was frage ich, das machst du ja nie“, ertönt es vorwurfsvoll hinter dem roten Vorhang.
Karl versucht, den Textfaden wieder aufzunehmen: Der Krieg in Vietnam eskaliert und die Amerikaner ...
„Da ist ja Herr Schuster“, vermeldet Dora. Sie scheint ihren Beobachtungsposten, das Küchenfenster mit Blick zum Innenhof, eingenommen zu haben. „Was für ein liebenswerter und aufmerksamer Mensch. Sogar den Müllbeutel bringt er hinaus. Was hat Frau Schuster nur für ein Glück mit diesem Mann.“
Karl setzt die Lesebrille ab. Er legt sie zusammen mit dem „Spiegel“ auf den braunen Beistelltisch. Gemächlich erhebt er sich aus seinem Lieblingssessel und schiebt den roten Vorhang zur Seite. An Dora vorbei, durchquert er den kleinen angrenzenden Raum, um in den dunklen Korridor zu gelangen. Er bückt sich und hebt zwei Gegenstände vom Boden auf. Mit einer prall gefüllten Einkaufstasche in der einen und einem in Zeitungspapier verpackten Blumenstrauß in der anderen Hand, kehrt Karl in die Küche zurück.
Er schaut Dora an und atmet tief durch: „Ich war auf dem Markt, wie du es mir aufgetragen hast“, setzt er an.
„Gib schon her.“ Mit einer unwilligen Bewegung nimmt sie die Tasche an sich und macht sich sofort daran, die Einkäufe zu verstauen.
Karl ist unschlüssig. Zaghaft legt er den Blumenstrauß auf den Küchentisch. Langsam schiebt er den roten Vorhang auf und kehrt zurück in seinen Lieblingssessel. Die Haustür fällt mit einem lauten Schnappen ins Schloss. Aus dem Treppenhaus hallen Doras Schritte, die sich zielsicher abwärts in Richtung Keller bewegen.
Es ist still. Nur das Ticken der alten Standuhr ist zu hören. Karl setzt die Lesebrille auf. Sein fast kahler Kopf beugt sich über den „Spiegel“.