Oben drauf
Elvira Arg bekam wegen mir immer einen oben drauf.
Elvira und ich lernten uns im Alter von wenigen Monaten kennen. Wir lagen in einem völlig überhitzten Gruppenraum der Familienbildungsstätte auf Yogamatten. Nackt. Auf dem Rücken. Viel Mobilität war nicht drin. Außer das Pipi, das lief. Unsere Mütter und ein Vater ließen uns an Luftballons nuckeln und die Kursleiterin zeigte, wie man pastellfarbene Seidentücher vor unseren Nasen hin und her wedelte, um unsere Sinneswahrnehmungen zu fördern. Gleichzeitig tauschten sich die Mütter und der Vater über Konsistenz und Farbschattierungen unserer breiigen Hinterlassenschaften und deren Reaktion auf unseren Popos aus.
Einmal wollte Mama mir meinen Schnuller geben, da rief die Kursleiterin empört,
„Frau Schönfeld! Den Schnuller, den sie da Greta in den Mund stecken, ist laut der Zeitschrift ‚Mein Engelchen‘ ergonomisch unzureichend. Wir empfehlen den Testsieger ‚SchnuckSchnuck‘. Hier zum Einführungspreis von 8,50 Euro zu erwerben.“
Mama wollte nur das Beste für mich und kaufte einen dieser Superschnuller. Elviras Mama gleich zwei. Das war das erste Mal, dass Elvira wegen mir einen oben drauf bekam.
Als Oma den Hightech Schnuller sah, fragte sie, „Was ist das?“ Mama erklärte es ihr.
Oma sagte, „Nicht der Schnuller lässt Gretchen einschlafen. Sondern Liebe und Geborgenheit.“
Seitdem war der Schnuller unauffindbar. Jahre später als wir Oma zu uns holten, fanden wir ihn ganz hinten in der Telefontischschublade.
Elvira und ich lebten nebeneinander her. Weiterhin bekam sie wegen mir einen oben drauf. Im Kindergarten hatte ich eine pinkfarbene Butterbrotdose mit einem kleinen rosa Einhorn. Elviras Butterbrotdose war auch pink. Das Einhorn groß, mit Glitzersternchen und Regenbogen oben drauf.
Zur Einschulung bastelte Mama eine grüne Schultüte mit bunten Papierblumen. Elvira bekam eine hellgrüne mit echten Blumen. Die Bienen flogen drauf.
Als ich zum Gymnasium wechselte, schenkte mir Mama einen Füller. Elvira bekam den gleichen, den passenden Kuli oben darauf. Als ich das meiner Oma erzählte, sagte sie, „Nicht der Füller schreibt gute Noten, sondern dein Fleiß.“
In der Mittelstufe bekam ich ein Damenrad. Elvira ein Hollandrad. In Rot und für den Lenker eine Rosengirlande oben drauf. Oma sagte, „Manchmal ist weniger mehr!“
In der Oberstufe wurde gefragt, was wir studieren wollten.
Ich antwortete, „Medizin.“
Elvira, „Pharmazie.“
Das war in Ordnung. Schließlich hatte Herr Arg mehrere Apotheken. Als unsere Zulassungen kamen, bewarb ich mich für das Studentenwohnheim. Elviras Eltern kauften eine Eigentumswohnung.
Dann bekam Oma einen Schlaganfall. Wir holten sie zu uns. Mama reduzierte ihre Arbeitsstunden und ich legte mein Studium auf Eis.
Im Anzeigenteil des Wochenblatts stand, dass „Arg`s Apotheken“ eine Lehrstelle zur Pharmazeutisch-technische-Assistentin anbot. Ich bekam die Stelle und wurde später übernommen. Elvira genoss ihr Studentenleben und ich, dass sie wegen mir keinen oben drauf bekam.
Mama schmierte Omas Abendbrot.
„Gibt`s etwas Neues aus der Apotheke?“ fragte sie.
„Herr Arg hat einen jungen, gutaussehenden Apotheker eingestellt. Er scheint nett zu sein.“
Oma sagte, „Traue niemals einem hübschen Mann!“
Mama und ich sahen uns verblüfft an.
Herr Lorbass war wirklich nett. Lächelte viel und verteilte Komplimente.
Einmal waren wir alleine in der Apotheke. Er fragte, ob ich nicht Lust hätte ihn ins Theater zu begleiten.
„Ich weiß nicht?“ sagte ich. „Sie sind schließlich mein Vorgesetzter!“
„Was wir in unserer Freizeit machen, geht niemanden etwas an!“
Das Theater lag in einem 20 Kilometer weit entfernten Ort. Herr Lorbass, höflich und zuvorkommend, nahm mir an der Garderobe meine Jacke ab und reichte sie mit seinem charmanten Lächeln der jungen Garderobiere, die ihn durch ihre langen künstlichen Wimpern vielsagend anschaute.
Ab da gingen wir jeden dritten Freitag im Monat im 20 Kilometer weit entfernten Ort aus. Irgendwann nahm er meine Hand. Später legte er seinen Arm um mich und seine Augen strahlten mich an. In der Apotheke strahlten sie nie.
Elvira kam in den Semesterferien nach Hause. Sie sah Herrn Lorbass, und es gab keinen dritten Freitag im Monat mehr. Er bekam Urlaub. Gemeinsam flogen sie nach Dubai. Ihren Eltern war es recht. Er wollte einen Nachfolger, sie Enkelkinder.
Bei der Trauung sang eine Sopranistin das Ave-Maria und Rosenblütenblätter wurden verstreut.
Beim Empfang drängte die Bewirtung den Gästen den Champagner regelrecht auf. Das Menü war lang. Der Wein süß. Kaum hob das Brautpaar die Tafel auf, verschwand mein Tischnachbar mit unserer vollbusigen Teilzeitkraft.
Ich verschwand aufs Klo.
Dort stand Elvira im Vorraum. Kreidebleich, gestützt von ihrer Trauzeugin. Dann holte sie so tief Luft wie es ihr enggeschnürtes Mieder zuließ. Es folgte ein markerschütternder Schrei. Die Musik verstummte.
Herr Lorbass saß mit heruntergelassenen Hosen auf der Bank vor dem großen Wandspiegel und steckte gerade die Theatergarderobiere bei sich oben drauf.