Jagd am Abgrund
Der alte Mann schlurfte träge zwischen den Beeten umher. Es war bereits früher Abend, doch die abklingende Glut des Tages schien ihm noch immer zuzusetzen. Das Hemd klebte an seinem Körper, und seine Bewegungen hatten etwas erschöpft Taumelndes. Methodisch schwenkte er den Strahl des Wasserschlauchs über die halbverdorrten Stauden. Sein gebückter Rücken war gestochen scharf durch die Optik des Zielfernrohrs zu erkennen.
Das war er also. Wieder wunderte sich Ralf, wie normal diese Männer aussahen. Der Alte hätte ein beliebiger, freundlicher Nachbar sein können, einer bei dem man die Schlüssel hinterlegt, wenn man in den Urlaub fährt. Und vielleicht war er das auch - aber eben nicht nur das. Ralf überlegte, ob er aus dieser Entfernung einen Kopfschuss wagen konnte. Der Laserentfernungsmesser zeigte zweihundertsiebzehn Meter; gutes Licht und kaum Wind – es war machbar.
Behutsam schob Ralf den Sicherungshebel des Jagdgewehrs nach vorn, bis er das feine Klicken der Mechanik spürte. Er ließ das Fadenkreuz den Rücken des Mannes hochkriechen. Der mit Altersflecken übersäte, von einem schütteren Kranz weißer Haare eingefasste Kopf schob sich in sein Sichtfeld. Beobachten und antizipieren. Ralf verlangsamte seinen Atem. Er fühlte sich in die sanft schaukelnden Bewegungen des Mannes ein, wurde eins mit dem Ziel. Beobachten und antizipieren. Sein Zeigefinger berührte das kühle Metall des Abzugs, die unbeteiligte Präzision der Waffe gab ihm Halt. Er setzte das Fadenkreuz auf den Hinterkopf des Mannes, etwas oberhalb des ersten Halswirbels, wo der Hinterkopf eine kleine Mulde bildete. Für dich, Annie, dachte er. Langsam krümmte er den Finger, bis er den Widerstand des Druckpunkts spürte. Noch einen Millimeter bis zum Tod des Alten.
Aber es war nicht richtig. Nicht bei diesem Mann. Ralf verharrte kurz, er blickte sich um. Das weiche Abendlicht, der Duft von warmem Kiefernharz, die trockene Körnigkeit des Sandbodens, auf dem lag – all das drang plötzlich zu ihm durch. Doch es war nicht die Zeit dafür. Ralf sicherte er die Waffe und schraubte den Schalldämpfer vom Lauf. Er stand auf, warf sich seinen Rucksack über und schulterte das Gewehr. Dann trat er aus dem Wald und ging hinüber zu dem Feldweg, der auf den Garten des Alten zulief.
Das Gehöft lag etwas abseits vom Dorf. Hinter dem Garten stand das Haus. Es war auf eine beunruhigende Weise verwahrlost. Die oberen Fenster waren vernagelt. Breite Lappen des schmutziggelben Putzes waren abgefallen und gaben die roten Backsteinmauern darunter preis. Das Haus sah aus, als wäre es teilweise gehäutet worden. War es dort passiert?
Ralf ging dem Gehöft entgegen, ohne den Versuch zu machen, sich zu verbergen. Als er sich bis auf zwanzig Meter genähert hatte, blickte der Alte auf. Er kam herüber zu dem niedrigen Holzzaun, der den Garten vom Weg trennte, und musterte Ralf mit milder Neugier. Er hatte sanfte, geradezu gütige Augen. Wie konnte dieser Mann solche Augen haben?
„Tach.“ Die Stimme des Mannes war auf angenehme Art heiser, ein wenig brüchig vom Alter. Er nickte Ralf zu. „Kann ich Ihnen helfen?“
Es waren seine letzten Worte. Ralf überbrückte die Distanz zwischen ihnen und sein rechter Arm schnellte in einem sauberen, oft geübten Halbkreis vor. Die Klinge des Kampfmessers durchtrennte Kehle und Stimmbänder des alten Mannes. Ralf fing den Schwung des Schnittes ab und stieß dem Mann in der Gegenbewegung das Messer in die Brust; zweimal, dreimal. Dann trat er zurück. Der Alte sackte fast lautlos zusammen, nur das leise Gurgeln von Blut in seiner offenen Luftröhre war zu hören. Dann war er tot.
Ralf wischte das Messer ab und warf einen letzten Blick auf das überraschend kleine Bündel auf der anderen Seite des Zauns. Er drehte er sich und ging zurück zum Wald. Er spürte nichts, keine Genugtuung, keine Reue, gar nichts. Mechanisch überlegte er, welche Spuren er hinterlassen hatte, aber es war ihm gleichgültig. Sie würden ihn kriegen, aber es würde zu spät sein, jetzt fehlten ihm nur noch zwei.
Erst im Auto, als er an Weizenfeldern vorbeifuhr, die in den letzten Strahlen der Abendsonne glühten, überrannten ihn die Erinnerungen. Er sah Annie vor sich. Ihr lachendes, stupsnasiges Gesicht mit der Unzahl von Sommersprossen, die übermütigen Augen, die blonden, widerspenstigen Haare, mühsam zu zwei Zöpfen gebändigt.
So hatte sie ausgesehen, vor zwei Jahren, an einem Sommerabend wie diesem. Karin, Annie und er waren von einem Badeausflug zurückgekommen, von einem kleinen, verwunschenen See, der tief in den Wäldern verborgen lag. Sie waren aufgekratzt gewesen und hatten so lange herumgealbert, bis er anhalten musste, weil er vor Lachen nicht mehr fahren konnte. Damals war alles gut und richtig gewesen.
Ralf fuhr an den Straßenrand. Er ließ den Kopf auf das Lenkrad sinken, sein Körper wurde von Krämpfen geschüttelt. Oh Annie. Es tut mir so leid, ich bin nicht dagewesen.
Als es passiert war, vor fünf Monaten, war er in Mali gewesen. Sein dritter Kampfeinsatz, noch sinnloser und schmutziger als die beiden ersten. Er kam gerade von einer mehrtägigen Aufklärungstour zurück, als der Kommandeur ihrer Einheit ihn zu sich rief. Ralf klopfte sich den Staub von der Uniform und trat in das Zelt. Er wusste sofort, dass etwas nicht stimmte.
„Setzen Sie sich“, sagte der Major und deutete auf einen kleinen Tisch mit drei Feldstühlen. Er setze sich ebenfalls und sah Ralf an, testend, wie um auszuloten, was dieser ertragen konnte.
„Ihre Frau hat versucht, Sie zu erreichen. Ihre Tochter, sie ist vorgestern nach der Schule nicht nach Hause gekommen.“ Er suchte nach den richtigen, den lindernden Worten, gab es aber auf. „Heute hat man sie gefunden. Es tut mir sehr leid.“
Es dauerte einen Augenblick, bis Ralf begriff, was der Major gesagt hatte. Dann traf es ihn wie ein unvermittelter Schlag in den Magen; er konnte nicht mehr atmen, suchte Halt. Nein, nicht Annie! Er starrte den Major an, suchte nach einem Zweifel, einem Ausweg. Aber er sah nur Bestätigung und Mitleid.
Ralf flog mit dem nächsten Transport zurück in die graue Kälte der norddeutschen Tiefebene. Karin holte ihn vom Flugplatz ab. Er erkannte sie kaum wieder, die letzten Tage hatten aus der strahlenden Frau ein abgemagertes, graues Wrack gemacht. Er nahm sie in den Arm. Das tat er oft in den nächsten Tagen, aber sie sprachen kaum miteinander.
Sie regelten die Dinge, die zu regeln waren, dann begann er zu suchen. Die Polizei schien noch nichts zu wissen, aber alte Freunde beim Militärischen Abschirmdienst halfen ihm weiter. Er nahm die Spur auf und folgte ihr in die abstoßendsten Ecken des Darknets, von dort führte sie ihn in die reale Welt. Je weiter er kam und je mehr er sah, umso übler wurde ihm. Als er es nicht mehr aushalten konnte, war er auf die Jagd gegangen.
Das Hotel lag in einem Vorort der Stadt. Wenn es jemals eine beste Zeit gehabt hatte, so war diese lange vorbei. Aber es war gut gelegen, und niemand interessierte sich für ihn. Ralf parkte im Hof des Hotels und nahm den Hintereingang. Sein Zimmer lag auf der zweiten Etage mit Blick auf die hinter dem Haus verlaufende Schnellstraße. Er warf seinen Rucksack in die Ecke, löschte das Licht und ließ sich auf das Bett fallen. Er starrte auf den rot pulsierenden Lichtpunkt direkt über sich und fragte sich, wer auf die Idee gekommen war, einen Feuermelder gerade dort zu installieren. Dann schlief er ein.
Ralf wachte auf, als die unbarmherzigen Finger der Morgensonne sich bis zu ihm vorgetastet hatten. Er wälzte sich vom Bett und zog die Vorhänge soweit zu, dass die Helligkeit erträglich war. Seine Schläfen bebten unter einem stechenden Schmerz. Er schleppte sich ins Bad und blieb so lange unter der Dusche, bis das Stechen zu einem dumpfen Druck abgeklungen war. Dann warf er sich zurück aufs Bett.
Es war kurz vor sieben. Ralf schaltete das Radio ein, und suchte einen lokalen Sender, die Regionalnachrichten. Es kam gleich als erste Meldung.
Aus der Polizei nahestehenden Kreisen … ein weiterer Fall in der mysteriösen Mordserie im Großraum Braunschweig ... offensichtlich durch eine tragische Verwechslung … der ältere Bruder der mutmaßlichen Zielperson … wie bei den anderen Morden große Mengen kinderpornografischen Materials … Hinweise auf weitere Gewaltverbrechen … Besitzer des Hauses verhaftet.
Bruder. Der Alte mit den sanften Augen, es war der Falsche gewesen. Die Wucht der Erkenntnis überrollte Ralf. Wie hatte das passieren können? Er rutschte vom Bett und krümmte sich auf dem Boden zusammen. Krämpfe schüttelten ihn, er erbrach sich. So blieb er liegen, die Stirn in den verfilzten Zotteln des Teppichs vergraben.
Es war genug. Ralf stemmte sich hoch und zog seinen Rucksack zu sich herüber. Seine Pistole steckte in der Seitentasche. Er ließ das Magazin herausschnappen, prüfte, dass es voll war, und schob es wieder zurück. Nachdenklich wog er die Waffe in der Hand. Das war es also, dachte er. Es ist vorbei. Oh Annie, es tut mir so leid.
Er lud die Pistole durch, setzte sie sich unter das Kinn und drückte ab.